Seit den 1950er Jahren haben Besatzungsmitglieder dokumentiert, wie sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert. Insbesondere konnten sie neurologische Defizite beobachten, nachdem sie Öldämpfe eingeatmet hatten. Es handelt sich um Geruchs- oder Rauchereignisse (Smell Events oder Fume Events) in Cockpit und Kabine. Öldämpfe können in die Kabine gelangen, weil Außenluft in den Triebwerken des Flugzeugs verdichtet wird und dann als sogenannte "Zapfluft" zur Belüftung in Cockpit und Kabine geleitet wird. Die Öldämpfe enthalten eine Mischung aus Organophosphatzusätzen, einschließlich Trikresylphosphat (TCP).
Arbeitsgruppen aus Industrie und Militär untersuchten gemeldete Symptome, Expositionsmuster, chemische Bestandteile der Dämpfe und Maßnahmen zur Risikominderung. Die Reaktion der Luftfahrtbranche war zunächst engagiert. Boeing erforschte Optionen zur Zapfluftfilterung und meldete 1954 ein Patent für das Design der zapfluftfreien Belüftung an. North American Aviation studierte Berichte zu Dämpfen im Cockpit und empfahl eine zapfluftfreie Belüftung der Flugzeuge oder die Filterung der Zapfluft.
Die Reaktion der Industrie verlagerte sich dann aber von der Suche nach Lösungen hin zum Wegdiskutieren der Realität. Es wurde behauptet, dass Grenzwerte für die Exposition gegenüber Chemikalien nicht überschritten werden und die Sicherheit damit gewährleistet wäre. Es wurde argumentiert, dass unter den TCPs im Triebwerksöl nur die Orthoisomere toxisch seien und dass diese mit nicht mehr als 0,2 % in der TCP-Mischung enthalten wären, sodass der "Toxizitätsgehalt" zu niedrig wäre, um ein Problem darzustellen.
Selbst der von der EASA finanzierte Bericht zur Kabinenluftqualität aus dem Jahr 2017 zeigt veraltetes Denken und Voreingenommenheit gegenüber der Gültigkeit von Berichten der Besatzung: "Um die fehlgeleitete Diskussion über die Kabinenluftqualität ein für alle Mal zu beenden, wird eine Studie benötigt in der Personen systematisch der Kabinenluft im Flugzeug ausgesetzt werden." (Mehr Details und Quellenangaben zu dieser historischen Einleitung in einem Vortrag: https://doi.org/10.5281/zenodo.7574569).
Ein erster "EASA Workshop on Future Cabin Air Quality Research" fand in Köln im Jahr 2020 statt. Hier hatten alle Interessenvertreter die Möglichkeit sich mit einer Präsentation in die Diskussion einzubringen. Die Präsentationen sind bei der EASA abgelegt.
Im Jahr 2023 melden Besatzungen weiterhin Fume Events, Krankheit und die Gefährdung der Flugsicherheit. In 60 Jahren ist leider sehr wenig erreicht worden. Bisher existiert nur ein Flugzeugtyp mit zapfluftfreier Frischluftversorgung (die Boeing 787). Es werden weiterhin keine Filter eingesetzt für die Zapfluft aus den Triebwerken (es gibt nur eine Option für das Cockpit der B757). Es gibt keine Sensoren, um die Besatzungen vor Öldämpfen zu warnen. Es gibt nur sehr begrenzte Schulungen für Besatzungen, um Fume Events zu erkennen und auf sie zu reagieren. Es gibt noch kein standardisiertes Fume-Event-Meldesystem.
Das neue Forschungsprojekt der EASA trägt den Titel "Cabin Air Quality Assessment of Long-Term Effects of Contaminants". Kurz: CAQ III. Hier die Ausschreibung. Nach einem Jahr der Projektlaufzeit wurde im Januar 2023 im "EASA Cabin Air Quality Research Workshop" in Köln über erste Ergebnisse und den geplanten weiteren Verlauf berichtet. Hier die Einladung.
Vorgänger zu CAQ III sind diese EASA-Projekte:
- EASA, 2017: CAQ – Preliminary Cabin Air Quality Measurement Campaign.
- EASA, 2017: AVOIL – Characterisation of the Toxicity of Aviation Turbine Engine Oils after Pyrolysis.
- EASA hatte 2016 bereits das Projekt FACTS (FRESHAIRCRAFT) gestartet (https://facts.aero). Das Projekt ist ohne Ergebnis beendet worden. Das erste Teilergebnis, eine kurze Literaturstudie, wurde von der Seite im Internet genommen (404-Fehler) kann aber über das Internet Archive bezogen werden. In FACTS wurden keine Tierversuche gemacht. Es wurden aber In-Vitro-Analysen mit isolierten Zellen und kontaminierter Luft durchgeführt. Ergebnis: Triebwerksöl konnte in fast allen Proben bei hoher Konzentration der Dämpfe die Zellen schädigen. Hydrauliköl ist stärker toxisch als Triebwerksöl.
CAQ III, Arbeitspaket 1: Hier geht es u. a. um eine Literaturrecherche zur Gesundheitsgefährdung und den Symptomen von Flugpersonal oder Passagieren bei wahrgenommenen Verunreinigungen der Kabinenluft. Erwähnt wurde eine Veröffentlichung aus dem WHO Journal "Public Health Panorama". Eigene Studien zum Gesundheitszustand von Flugpersonal sind in CAQ III nicht vorgesehen.
CAQ III, Arbeitspaket 2: Hier geht es u. a. um einen Bleed Air Contamination Simulator (BACS), der das Luftzufuhrsystem eines Flugzeugs von der Entlüftungsöffnung mit hohen Druck- und Temperaturbedingungen bis zur Kabine mit mehr oder weniger normalen Raumluftbedingungen nachbildet. Der BACS kann Lufttemperaturen bis 590 °C und 8 bar erzeugen. BACS-Referenz für CAQ III: 350 °C und 6 bar. Triebwerksöl: Mobil Jet Oil II. Der Vorteil des BACS besteht darin, dass es die Erzeugung kontaminierter Luft unter kontrollierten Umständen ermöglicht.
CAQ III, Arbeitspaket 3: Über eine ca. 9 m lange Transferleitung wird die kontaminierte Luft aus dem BACS zur Expositionseinheit für die Tierversuche geleitet. Die Nutzung von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken erfolgt nach den Grundsätzen der Ethik und des Tierschutzes und unter Beachtung der Prinzipien Tierversuche zu reduzieren, zu verfeinern und wann immer möglich zu ersetzen. Zur Beurteilung der menschlichen Gefährdung im Flugzeug kann auf Tierversuche nicht vollständig verzichtet werden.
CAQ III, Arbeitspaket 4: Es wurden die Luftkanäle von drei Flugzeugen des Typs Airbus A320 untersucht. Die Luftkanäle sind innen schwarz. Aus den Luftkanälen wurden über 100 Proben entnommen. Alle Proben wurden zur Analyse im Rahmen von CAQ III an das National Research Centre for the Working Environment (NRCWE) in Kopenhagen übermittelt. HEPA-Filter aus dem Flugbetrieb bei der Lufthansa werden auf Verunreinigungen überprüft. Bei Airbus wird einem Flugzeug Triebwerksöl am Boden zugegeben und danach die HEPA-Filter untersucht. Aus dem BACS (siehe Arbeitspaket 2) wird kontaminierte Triebwerkszapfluft auf HEPA-Filter geführt.
Eine unabhängige Darstellung der Zustände der Luftkanäle und Komponenten der Klimaanlage in einem Airbus A320 ist in der Veröffentlichung "Routes of Aircraft Cabin Air Contamination from Engine Oil, Hydraulic and Deicing Fluid" enthalten (https://doi.org/10.13111/2066-8201.2022.14.1.13). Bisher wurde in der fachlichen Diskussion noch von der Annahme ausgegangen, dass sich das Triebwerksöl und die Hydaulikflüssigkeit in geschlossenen Systemen befindet. Heute wird akzeptiert, dass diese Flüssigkeiten einen Weg in Kabine und Cockpit finden. Entsprechend muss der Frage nachgegangen werden, welche Wirkungen diese Stoffe dort entfalten.
Auch andere Organisationen waren in den letzten Jahren zum Thema aktiv und konnten ihre Ergebnisse auf dem EASA Cabin Air Quality Research Workshop vorstellen.
Die Berufsgenossenschaft Verkehr (BG Verkehr) hat zwei Studien zu Fume- and Smell-Events (FUSE) durchführen lassen. Die Ergebnisse beider Studien liegen jetzt vor. Die wissenschaftliche Veröffentlichung steht noch aus. Hintergrund: Im Jahr 2019, dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie, wurden der BG Verkehr 524 solcher Fume- and Smell-Events gemeldet. In den Coronajahren 2020 bzw. 2021 waren es 118 beziehungsweise 47 Fälle.
FUSE können bei betroffenen Crewmitgliedern akute körperliche Beschwerden auslösen – unter anderem Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel und Atemwegsbeschwerden. Deshalb erkennt die BG Verkehr diese oft als Arbeitsunfall (kurzer Dauer) an.
Allerdings klagen einige Crewmitglieder auch über teils schwere und anhaltende Beschwerden, unter anderem im neurologischen Bereich, die sie auf ein FUSE zurückführen. Nach Ansicht der BG Verkehr fehlt bisher allerdings ein wissenschaftlicher Beleg für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfallereignis und derartigen chronischen gesundheitlichen Beschwerden. Die Crewmitglieder sind dann gegebenenfalls arbeitsunfähig ohne Entschädigung.
Im Rahmen der FUSE-II-Studie wurden den betroffenen Crews nach der Landung an flughafennahen Kliniken Blut- und Urinproben abgenommen, um in diesen unter anderem VOC und deren Stoffwechselprodukte zu analysieren. Insgesamt beteiligten sich 375 Betroffene an diesem Biomonitoring. Die ermittelten Werte wurden mit denen einer Kontrollgruppe von 86 Personen aus der Allgemeinbevölkerung verglichen. "Die Ergebnisse lassen keine toxikologisch relevanten Expositionen durch VOC im Rahmen von FUSE erkennen" berichtet die BG Verkehr.
Die jetzige Studie schloss sich an eine vorherige Studie (FUSE-I) an. In der FUSE-I-Studie wurden mehr als 300 Urinproben von Crewmitgliedern mit selbst berichteten FUSE auf andere potenziell neurotoxische Substanzen untersucht. Dazu gehörten vor allem Gefahrstoffe aus der Gruppe der Organophosphate. Gesundheitsgefährdende Konzentrationen an diesen Stoffen im Urin konnten nicht gefunden werden.
Im "FAA Reauthorization Act of 2018" wurde die Federal Aviation Administration der USA mit "SEC. 326. Aircraft Air Quality" angewiesen, Forschungsprojekte in Auftrag zu geben.
(1) Es sollen Schadstoffkonzentrationen in der Zapfluft und in Kabinen von Verkehrsflugzeugen gemessen werden.
(2) Es sollen mögliche gesundheitliche Auswirkungen solcher Schadstoffkonzentrationen auf Passagiere, Kabinen- und Cockpitpersonal bewertet werden.
(3) Es sollen Technologien identifiziert werden, die geeignet sind, vor Zapfluftkontamination zu warnen. Es sollen Technologien identifiziert werden zur effektiven Überwachung der Luftversorgungssysteme des Flugzeugs im Flug.
(4) Es sollen Techniken zur Vermeidung von Fume Events identifiziert werden.
Beauftragt von der FAA evaluiert die Kansas State University 40 verschiedene Arten von Sensoren, die hinter einem Triebwerk in der Zapfluft angeordnet wurden. Gemessen werden u. a. ultrafeine Partikel (Ultra Fine Particles, UFP), flüchtige organische Verbindungen (Volatile Organic Compounds, VOC), Formaldehyd (CH2O), Kohlenstoffmonoxid (CO) und Kohlenstoffdioxid (CO2). UFP scheinen ein hilfreicher Parameter zur Bewertung der Zapfluft zu sein.
ANSES ist die französische Agentur für Lebensmittel-, Umwelt- und Arbeitsschutz, die den Ministerien für Gesundheit, Umwelt, Landwirtschaft, Arbeit und Verbraucherangelegenheiten unterstellt ist. Der Französische Demokratische Gewerkschaftsbund (CFDT) mit Unterstützung der Gewerkschaft der Airline Pilots (SPL), die nationale Gewerkschaft des Flugpersonals (SNPNC), die Gewerkschaft der Piloten nationaler Fluggesellschaften (SNPL) und der Vereinigung der Opfer des aerotoxischen Syndroms (AVSA). AVSA bat ANSES in 2019, die beobachteten akuten oder längerfristigen Erkrankungen nach Fume Events zu untersuchen. ANSES führt eine Metastudie durch bestehend aus Literaturrecherche und Experteninterviews. Drei Aufgaben sollen bearbeitet werden:
- Beschreiben des Erkenntnisstandes zur Luftverschmutzung in Flugzeugkabinen,
- Ermittlung der Auswirkungen der Luftverschmutzung auf den Gesundheitszustand der Besatzung,
- Abfrage der institutionellen Empfehlungen und der Maßnahmen zur Prävention bei den Behörden der jeweiligen Länder (EASA, FAA, CAA, ...).
Die Situation kann mit den Worten von Sven Schuchardt, Fraunhofer ITEM (Projektmanagement CAQ III) auf den Punkt gebracht werden: "We cannot change the system. It is what it is."