Apotheken im Fadenkreuz digitaler Betrüger – Wenn Rechnungen zur Falle werden
Immer häufiger geraten Apotheken ins Visier organisierter Cyberkriminalität. Eine besonders perfide Methode, die derzeit bundesweit für große Verunsicherung sorgt, ist der sogenannte Business E-Mail Compromise (BEC). Dabei dringen Täter über kompromittierte E-Mail-Konten in den geschäftlichen Schriftverkehr ein, fangen elektronische Rechnungen ab und verändern unbemerkt die Bankverbindung – mit gravierenden finanziellen Folgen.
Die Masche funktioniert deshalb so effektiv, weil die manipulierten Rechnungen auf den ersten Blick authentisch erscheinen. Die Betrüger übernehmen dabei Absenderadresse, Rechnungsnummer, Leistungsbeschreibung und Betrag nahezu identisch aus früheren Vorgängen. Nur ein Detail wird geändert: die IBAN. Anstelle des eigentlichen Empfängerkontos wird ein Konto angegeben, das die Täter kontrollieren. Dieses befindet sich häufig im Ausland und wird nach dem Geldeingang zügig geräumt. Rückbuchungen sind in der Praxis kaum noch durchsetzbar, da die Zahlungsanweisung formal korrekt erfolgt ist.
Apotheken zählen dabei zu besonders gefährdeten Einrichtungen. Ihre regelmäßigen Überweisungen an Großhändler, Hersteller oder Logistikpartner summieren sich oftmals auf fünf- bis sechsstellige Beträge. Dies macht sie zu lukrativen Zielen für professionelle Tätergruppen. Der zeitliche Druck im Apothekenbetrieb sowie automatisierte Abläufe bei der Rechnungsprüfung erhöhen das Risiko, dass Manipulationen erst bemerkt werden, wenn das Geld bereits verloren ist.
Ein weiteres Einfallstor für solche Angriffe sind unzureichend geschützte E-Mail-Konten. Besonders gefährdet sind Postfächer ohne Zwei-Faktor-Authentifizierung oder mit leicht zu erratenden Passwörtern. Auch veraltete Systeme, fehlende Sicherheitsupdates oder Drittanwendungen mit weitreichenden Zugriffsrechten können zur Kompromittierung beitragen. Sobald Angreifer Zugriff auf ein E-Mail-Konto erlangen, können sie nicht nur Rechnungen manipulieren, sondern auch täuschend echt wirkende E-Mails im Namen der Apotheke versenden.
Fachleute raten Apotheken dazu, jede Änderung von Bankverbindungen mit besonderer Vorsicht zu behandeln. In der Regel kündigen seriöse Geschäftspartner eine solche Änderung frühzeitig und über mehrere Kommunikationskanäle hinweg an. Geht eine Rechnung mit geänderter IBAN ein, sollte dies immer ein Anlass zur Überprüfung sein – bevorzugt telefonisch über eine bereits bekannte und intern gespeicherte Nummer. Auch bereits erwartete Rechnungen sollten nicht automatisch als unbedenklich gelten, denn in vielen Fällen werden genau solche Routinen von Kriminellen gezielt ausgenutzt.
Neben technischen Vorkehrungen wie Firewalls, Passwortmanagement, Zugriffskontrollen und Verschlüsselung ist vor allem die Etablierung organisatorischer Schutzmaßnahmen entscheidend. Dazu zählen das Vier-Augen-Prinzip bei der Freigabe größerer Zahlungen, regelmäßige Schulungen des Personals im Umgang mit digitalen Risiken und die Sensibilisierung für verdächtige E-Mail-Inhalte oder Anhänge. Auch die Kontrolle, welche Anwendungen Zugriff auf die Mailkonten haben, sollte Teil regelmäßiger Sicherheitsüberprüfungen sein.
Ein oft unterschätzter, aber zunehmend zentraler Aspekt der Absicherung betrifft den Schutz vor den finanziellen Folgen eines erfolgreichen Angriffs. Hier kommt die Rolle von Versicherungen ins Spiel – insbesondere Cyber-Versicherungen und Vertrauensschadenversicherungen. Erstere greifen bei Schäden durch Cyberangriffe, etwa bei Datenverlust, Betriebsunterbrechung oder Lösegeldforderungen nach Ransomware-Angriffen. Vertrauensschadenversicherungen decken insbesondere Vermögensschäden durch betrügerisches Verhalten Dritter oder sogar eigener Mitarbeitender – und damit auch Schäden durch manipulierte Überweisungen infolge von E-Mail-Kompromittierungen.
Für Apothekenbetreiber ist es daher von wachsender Bedeutung, nicht nur technische und organisatorische Schutzmaßnahmen zu etablieren, sondern auch das Thema Versicherungsschutz mit hoher Priorität zu behandeln. Die Auswahl geeigneter Policen sollte sich dabei an den spezifischen Risiken im Apothekenbetrieb orientieren – insbesondere im Hinblick auf digitale Zahlungsprozesse, die Vielzahl externer Dienstleister und die sensiblen Datenverkehre.
Apotheken, die in diesem Bereich untätig bleiben, riskieren nicht nur hohe finanzielle Verluste, sondern auch nachhaltige Störungen ihrer Betriebsabläufe – etwa wenn interne Ermittlungen, Bankengespräche und IT-Prüfungen nach einem Vorfall wertvolle Zeit binden. Die Kosten eines einzigen erfolgreichen Angriffs können sich nicht nur auf die Höhe der Zahlungssumme belaufen, sondern auch Folgeschäden wie Vertrauensverlust bei Partnern und Kunden nach sich ziehen.
Der zunehmende Erfolg von Betrugsmaschen wie dem Business E-Mail Compromise offenbart ein grundlegendes Problem im Umgang mit digitalen Risiken: Die Sorglosigkeit im Alltag trifft auf immer ausgefeiltere Methoden krimineller Netzwerke. Dass Apotheken nun verstärkt ins Visier dieser Täter geraten, ist kein Zufall – es ist das Ergebnis ihrer zentralen Rolle in der medizinischen Versorgung, ihrer hohen Transaktionsvolumina und oft noch unzureichender Schutzmechanismen im digitalen Raum.
Während technische Lösungen wie Zwei-Faktor-Authentifizierung oder E-Mail-Verschlüsselung bereits weit verbreitet sein könnten, bleibt ihre Umsetzung in vielen Apotheken lückenhaft. Hinzu kommt ein gewisses Maß an betrieblicher Routine, das kritische Fragen im Rechnungswesen häufig verdrängt. Wer jeden Zahlungslauf als reine Formalie behandelt, öffnet dem Betrug Tür und Tor.
Doch die Bedrohung geht über das Technische hinaus. Es ist die mangelnde Sensibilisierung für digitale Angriffsformen, die Täter so erfolgreich macht. Nur durch klare interne Prozesse, regelmäßige Schulungen und eine konsequente Sicherheitskultur kann dieser Entwicklung etwas entgegengesetzt werden. Gerade in inhabergeführten Apotheken mit kleinen Teams bleibt dafür jedoch oft zu wenig Zeit – mit teuren Konsequenzen.
Ein ebenso wichtiger wie oft vernachlässigter Punkt ist der finanzielle Rückhalt im Schadensfall. Cyber-Versicherungen und Vertrauensschadenversicherungen sind keine Luxusprodukte, sondern notwendige Bausteine moderner Betriebsführung. Sie ersetzen nicht die Prävention, aber sie federn den Ernstfall ab – und dieser ist längst keine Ausnahme mehr, sondern reale Gefahr.
In einer Zeit, in der ein Mausklick über Tausende Euro entscheidet, ist digitale Wachsamkeit keine Frage der Technik, sondern der Haltung. Wer heute nicht investiert – in Schutzmaßnahmen, in klare Abläufe und in Versicherungsschutz – riskiert morgen das wirtschaftliche Fundament seiner Apotheke. Und das kann, in einem ohnehin belasteten Gesundheitssystem, nicht einfach als individuelles Betriebsrisiko hingenommen werden.
DocMorris investiert massiv in das Marketing für rezeptpflichtige Medikamente
DocMorris, einer der führenden Akteure im Online-Apothekenmarkt, setzt in diesem Jahr große finanzielle Mittel ein, um seine Marktpräsenz im Bereich der rezeptpflichtigen Medikamente auszubauen. Mit dem Ziel, einen Umsatz von einer Viertelmilliarde Euro in diesem Segment zu erzielen, plant das Unternehmen, bis zu 50 Millionen Euro in entsprechende Marketingaktivitäten zu investieren. Diese Strategie spiegelt das Vertrauen des Unternehmens in die zunehmende Akzeptanz und Nachfrage nach Online-Apothekendiensten und die anhaltende Verschiebung von Kundenpräferenzen hin zum digitalen Erwerb von Medikamenten wider.
Die geplante Marketinginitiative ist vielschichtig und beinhaltet sowohl traditionelle als auch innovative Ansätze. Online-Werbekampagnen, die speziell auf verschiedene demografische Kundengruppen ausgerichtet sind, sollen durch gezielte Ansprache und personalisierte Angebote die Kundennähe erhöhen. Darüber hinaus plant DocMorris, Partnerschaften mit Gesundheits-Apps und digitalen Gesundheitsplattformen zu vertiefen, um eine umfassende Versorgung und Betreuung der Patienten sicherzustellen. Ebenso wird die Optimierung der Benutzerfreundlichkeit der eigenen Plattform fortgesetzt, um den Bestellvorgang zu vereinfachen und die Kundenzufriedenheit zu steigern.
Die Investition unterstreicht auch DocMorris' Bestreben, als Vorreiter in der Digitalisierung des Gesundheitsmarktes aufzutreten. Indem das Unternehmen in Technologien und Plattformen investiert, die eine sichere und effiziente Abwicklung von Online-Bestellungen ermöglichen, positioniert es sich strategisch günstig in einem wettbewerbsintensiven Markt. Trotz der hohen Investitionen betont DocMorris, dass alle Marketingmaßnahmen streng den gesetzlichen Rahmenbedingungen folgen und auf ethischen Prinzipien basieren.
DocMorris' Entscheidung, beträchtliche Summen in das Marketing für rezeptpflichtige Medikamente zu stecken, zeigt nicht nur das Vertrauen in das eigene Geschäftsmodell, sondern auch eine klare Strategie, um in einem sich wandelnden Marktumfeld führend zu bleiben. Diese Offensive kann jedoch nicht ohne Bedenken betrachtet werden. Der wachsende Fokus auf Online-Marketing und der Vertrieb von Medikamenten werfen Fragen auf bezüglich des Datenschutzes und der Sicherheit der Patienteninformationen. Zudem steht die Pharmaindustrie vor der Herausforderung, eine Balance zwischen technologischem Fortschritt und der Beibehaltung der menschlichen Komponente in der Gesundheitsversorgung zu finden.
Die Rolle der traditionellen Apotheken, insbesondere der Aspekt der persönlichen Beratung, ist ein weiterer wichtiger Punkt in dieser Diskussion. Die Bequemlichkeit und Effizienz von Online-Diensten dürfen nicht zu einer Vernachlässigung des direkten Patientenkontakts führen, der oft entscheidend für die korrekte Medikamentenanwendung und -überwachung ist. Letztendlich wird der Erfolg von DocMorris' Strategie nicht nur von der Kundengewinnung und -bindung abhängen, sondern auch davon, wie gut das Unternehmen in der Lage ist, ethische Standards zu wahren und regulatorische Herausforderungen zu meistern. Die Investition in Marketing ist daher nicht nur ein finanzielles Engagement, sondern auch ein Test für die Fähigkeit des Unternehmens, verantwortungsvoll in einem komplexen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Umfeld zu agieren.
Ostdeutsche Belange in der Koalition: Ein Stimmverlust in der Bundespolitik?
In der politischen Arena Deutschlands brodelt es erneut vor Unzufriedenheit, angefacht durch die jüngsten Bemerkungen von Petra Köpping, der sächsischen Sozialministerin und SPD-Mitglied. Während einer Pressekonferenz in Dresden drückte sie deutlich ihre Frustration darüber aus, dass die Belange Ostdeutschlands in der Präsentation des neuen Koalitionsvertrags in Berlin ignoriert wurden. Diese empfundene Vernachlässigung könnte ihre Chancen auf ein Bundesministerium schmälern, da wichtige Ministerien wie das Gesundheits- und Familienministerium an die CDU gegangen sind.
Köpping wies darauf hin, dass das Verständnis für die spezifischen Probleme der ostdeutschen Bundesländer innerhalb der SPD, besonders im westlichen Teil Deutschlands, mangelhaft sei. Ein Beispiel dafür ist der Härtefallfonds für Rentenempfänger, dessen Relevanz im Westen kaum erkannt wird. Sie schlug vor, dass westdeutsche SPD-Ministerpräsidenten ein Praktikum in Ostdeutschland machen sollten, um ein besseres Verständnis für die dortigen Herausforderungen zu entwickeln.
Die politische Situation in Sachsen, wo die AfD erhebliche Wahlerfolge verzeichnet, erschwert zusätzlich die Vertretung ostdeutscher Interessen auf Bundesebene. Holger Mann, SPD-Bundestagsabgeordneter, bemerkte, dass es schwieriger werde, sächsische Anliegen in Berlin zu vertreten, vor allem da die AfD mehr Mandatsträger stellt als die Koalitionsfraktionen aus Sachsen.
SPD-Chefin Kathrin Michel zeigte sich zwar erfreut über die Beteiligung vieler ostdeutscher Politiker an den Koalitionsverhandlungen, sie warnte jedoch vor den Herausforderungen, die es mit sich bringt, Ostdeutschland die Bedeutung zukommen zu lassen, die ihm gebührt. Trotz allem bewertete sie den Koalitionsvertrag als stark von sozialdemokratischen Werten geprägt und empfahl dessen Annahme den sächsischen Parteimitgliedern.
Die aktuellen Entwicklungen werfen ein Schlaglicht auf die tief verwurzelten regionalen Disparitäten innerhalb Deutschlands, die trotz jahrzehntelanger Bemühungen um eine Angleichung weiterhin bestehen. Die Ost-West-Spaltung in der politischen Wahrnehmung und Repräsentation ist mehr als nur ein symbolisches Problem. Sie ist ein echtes Hindernis für eine gerechte politische Vertretung. Köppings Vorschlag, ein Praktikum für westdeutsche Politiker einzuführen, mag symbolisch erscheinen, spiegelt jedoch die Notwendigkeit wider, Brücken zu bauen und Verständnis zu fördern. Wenn Deutschland wirklich als ein vereintes Land agieren möchte, muss es sicherstellen, dass alle Regionen gehört und verstanden werden. Es ist an der Zeit, dass die politischen Führer diese regionale Kluft ernst nehmen und konkrete Schritte unternehmen, um sie zu überbrücken.
Gerichtsbeschluss bestätigt: BtM-Gebühr für Substitutionsmittel nur einmal abrechenbar
In einem richtungsweisenden Urteil hat das Landessozialgericht München die Praxis der Abrechnung von Betäubungsmittelgebühren bei der Substitutionstherapie klar definiert. Demnach dürfen Apotheken die Betäubungsmittelgebühr für die Abgabe von Substitutionsmitteln im Sichtbezug nur einmalig geltend machen. Diese Entscheidung folgt der Argumentation, dass die Verantwortlichkeit für die korrekte Dokumentation und damit verbundene Kosten bei dem substituierenden Arzt oder der Ärztin liegen.
Der Fall betrifft insbesondere die Behandlung von Patientinnen und Patienten, die im Rahmen einer Opioidsubstitutionstherapie behandelt werden. In solchen Fällen werden die Medikamente unter direkter Aufsicht der substituierenden Mediziner ausgehändigt. Die Richter stellten fest, dass eine wiederholte Berechnung der BtM-Gebühr nicht gerechtfertigt sei, da der administrative Aufwand für die Dokumentation nicht bei jeder einzelnen Medikamentenausgabe neu entsteht, sondern vielmehr eine fortlaufende Verpflichtung des behandelnden Arztes oder der Ärztin darstellt.
Dieses Urteil bringt eine bedeutende Klärung für Apotheken und substituierende Mediziner, die mit der Abgabe von Betäubungsmitteln im Rahmen der Substitutionstherapie befasst sind. Es wird erwartet, dass diese Entscheidung weitreichende Auswirkungen auf die Abrechnungspraktiken und finanzielle Planung in der Pharmabranche haben wird.
Das Urteil des Landessozialgerichts München markiert einen wichtigen Schritt hin zur Vereinheitlichung und Transparenz in der Abrechnungspraxis von Betäubungsmittelgebühren. Durch die klare Richtlinie, dass die BtM-Gebühr nur einmalig erhoben werden darf, werden nicht nur die administrativen Belastungen für Apotheken potenziell reduziert, sondern auch die finanziellen Lasten für das Gesundheitssystem insgesamt. Wichtig ist nun, dass sowohl Apotheken als auch medizinisches Fachpersonal sich dieser neuen Regelung bewusst sind und ihre Abrechnungspraktiken entsprechend anpassen, um rechtliche Auseinandersetzungen in Zukunft zu vermeiden. Dieses Urteil könnte somit als Präzedenzfall für ähnliche Fälle in der Zukunft dienen und bietet eine klare Orientierungshilfe für alle Beteiligten im Gesundheitswesen.
BGH bremst Massenklagen gegen Beitragsanpassungen in der PKV
Die Welle von Massenklagen gegen Beitragsanpassungen in der Privaten Krankenversicherung (PKV) steht vor einem Wendepunkt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem aktuellen Urteil vom 20. März 2024 (Az.: IV ZR 68/22) die Anforderungen an Rückforderungsansprüche deutlich verschärft. Versicherte, die zu viel gezahlte Beiträge zurückverlangen wollen, müssen demnach konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Beitragskalkulation darlegen. Pauschale Behauptungen oder ein einfaches Bestreiten mit Nichtwissen reichen künftig nicht mehr aus.
Das Urteil trifft eine Klageindustrie, die sich in den vergangenen Jahren auf Basis automatisierter Softwarelösungen rasant entwickelt hatte. Auf Massenverfahren spezialisierte Kanzleien konnten durch den Einsatz digitaler Fallbearbeitung tausende nahezu identische Klagen gleichzeitig einreichen. Möglich gemacht wurde dieses Geschäftsmodell auch durch die finanzielle Unterstützung zahlreicher Rechtsschutzversicherer, die regelmäßig die Prozesskosten übernahmen. Für viele Versicherte bedeutete dies, mit einer einzigen Unterschrift Teil eines gerichtlichen Verfahrens zu werden – ohne aktive Mitwirkung oder Kenntnis der rechtlichen Details.
Die Justiz sah sich mit dieser Flut zunehmend überfordert. Spezialisierte Kammern wurden eingerichtet, Richterstellen aufgestockt, Verfahren standardisiert. Oft begnügten sich Kläger in den Schriftsätzen mit unkonkreten Vorwürfen. Kalkulationsunterlagen der Versicherer, die teils mehrere tausend Seiten umfassten, blieben vielfach unberücksichtigt. Dennoch beauftragten Gerichte regelmäßig kostenintensive Sachverständigengutachten – in der Regel finanziert durch die beklagten Versicherer.
Mit seinem Urteil stellt der BGH klar, dass solche Gutachten nicht auf Verdacht hin beauftragt werden dürfen. Er fordert eine substanzielle Darlegung des Vorwurfs durch den Kläger. Insbesondere bei der sogenannten Limitierung – einer internen Maßnahme der Versicherer zur Vermeidung übermäßiger Beitragserhöhungen – sieht das Gericht keine generelle gerichtliche Prüfpflicht. Die Beweislast für eine unzulässige Mittelverteilung liegt beim Versicherten. Selbst wenn eine Limitierung fehlerhaft sein sollte, bleibe eine Beitragserhöhung wirksam, sofern die zugrunde liegende Nachkalkulation den gesetzlichen Anforderungen entspricht.
Zahlreiche Gerichte dürften nun umdenken. In der Vergangenheit hatten einige Instanzen Beitragsanpassungen bereits dann für unwirksam erklärt, wenn die Limitierung unklar war oder bestimmte Unterlagen fehlten. Künftig rückt die Beitragskalkulation selbst stärker in den Fokus. Diese ist allerdings hochkomplex und stellt auch für erfahrene Richter eine Herausforderung dar.
Die Entscheidung des BGH hat Signalwirkung: Sie verändert die rechtliche Bewertung von Klagen gegen Beitragsanpassungen grundlegend. Die Zahl der neuen Verfahren könnte deutlich zurückgehen – nicht zuletzt, weil geeignete Gerichtsgutachter mittlerweile monatelang ausgelastet sind und der Aufwand für jede einzelne Klage steigt. Für Kanzleien, die auf hohe Streitwerte durch Rückforderungen mehrerer Jahre setzen, wird das Geschäftsmodell unattraktiver. Denn wo es an konkretem Klagevortrag fehlt, droht künftig die Klageabweisung.
Der Bundesgerichtshof hat die Reißleine gezogen – und das aus gutem Grund. Zu lange konnten Klagen gegen Beitragsanpassungen ohne Substanz geführt werden, gestützt auf pauschale Zweifel und durchfinanziert von Rechtsschutzversicherungen. Gerichte wurden gezwungen, Ressourcen für Verfahren aufzuwenden, deren Grundlage oft in bloßen Vermutungen bestand. Dass ausgerechnet sensible Versicherungsmathematik zum Spielball industriell betriebener Klagewellen wurde, war ein systemischer Missstand.
Die nun formulierten Anforderungen an die Darlegungspflicht des Klägers bringen das Verfahren zurück in geordnete Bahnen. Sie schützen nicht nur die Justiz vor Überlastung, sondern letztlich auch die Versichertengemeinschaft vor einer Kostenumverteilung zugunsten einiger Kläger. Wer die Unwirksamkeit einer Beitragsanpassung geltend machen will, muss sich künftig intensiver mit seinem Tarif und den konkreten Rechengrundlagen befassen. Das ist keine Schikane, sondern ein Gebot rechtsstaatlicher Fairness.
Der Rechtsmarkt ist im Wandel. Die Entscheidung des BGH wird die automatisierte Massenverfahrenspraxis nicht beenden, aber deutlich einschränken. Qualität wird wieder wichtiger als Masse – ein überfälliger Schritt im Interesse aller Beteiligten.
Großhändler gegen Skonto-Freigabe – Phagro warnt vor Versorgungslücken
Der Bundesverband des pharmazeutischen Großhandels (Phagro) spricht sich entschieden gegen die im Koalitionsvertrag vorgesehene Aufhebung des Skonto-Verbots im Arzneimittelgroßhandel aus. In einem aktuellen Positionspapier warnt der Verband vor gravierenden Folgen für die Stabilität der Arzneimittelversorgung in Deutschland, sollte die sogenannte „Skonto-Freigabe“ umgesetzt werden.
Laut Phagro handelt es sich bei der geplanten Maßnahme nicht um klassische Skonti, die an eine schnelle Zahlung geknüpft sind, sondern um eine Möglichkeit für Apotheken, unbegrenzt Rabatte auf den gesetzlich festgelegten Großhandelspreis zu erhalten. Diese Form der Preisnachlässe sei nicht nur ökonomisch problematisch, sondern auch strukturell irreführend. Der Verband kritisiert, dass die Neuregelung einer Umverteilung zulasten des Großhandels gleichkomme.
Der wirtschaftliche Schaden für die Branche sei erheblich. Hochgerechnet auf rund 17.000 Apotheken bedeute die Rabattfreigabe einen potenziellen Ergebnisverlust von jährlich 255 Millionen Euro – bei einem Gesamtjahresergebnis des Großhandels von rund 310 Millionen Euro. Eine solche Belastung könnte laut Phagro zu Einschränkungen in der Lieferfrequenz, der Lagerhaltung und der Verfügbarkeit von Arzneimitteln führen.
Der Großhandel verweist darauf, dass er über die gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben hinaus umfangreiche Leistungen erbringe. Dazu zählten unter anderem die flächendeckende Belieferung mehrmals täglich, die Bevorratung auch in Zeiten von Lieferengpässen sowie die Vorfinanzierung von Arzneimitteln im Milliardenvolumen. Ohne wirtschaftliche Stabilität sei diese Versorgungsqualität nicht aufrechtzuerhalten.
Zwar begrüßt der Verband einzelne im Koalitionsvertrag vorgesehene Vorhaben – etwa die Einführung strengerer Temperaturkontrollen beim Versandhandel oder die Betonung der Apotheken als zentrale Anlaufstellen im Gesundheitswesen – doch sieht er im geplanten Skonto-Verzicht eine direkte Gefährdung für die gesamte Versorgungskette.
Die Politik sei gefordert, wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten, anstatt mit scheinbar kostenneutralen Maßnahmen neue Belastungen zu schaffen. Die Vergütung der Apotheken müsse über eine gezielte Anpassung der Apothekenzuschläge erfolgen – nicht durch eine Aushöhlung der Vergütungsstruktur des Großhandels.
Die Warnung des Phagro kommt nicht überraschend, aber sie ist in ihrer Deutlichkeit bemerkenswert. Der politische Reflex, Einsparungen durch interne Umverteilungen zu ermöglichen, mag auf den ersten Blick pragmatisch wirken, doch die Rechnung geht in diesem Fall nicht auf. Die Margen im pharmazeutischen Großhandel sind ohnehin schmal kalkuliert. Eine weitere Reduzierung durch „Rabattfreiheit“ gefährdet nicht nur betriebswirtschaftliche Grundlagen, sondern auch die Logistik der Versorgung.
Die Vorstellung, dass Apotheken durch Rabatte gestärkt und gleichzeitig die Arzneimittelversorgung nicht beeinträchtigt werde, ignoriert die Realität der Lieferkette. Wer den Großhandel wirtschaftlich ausdünnt, riskiert eine Kettenreaktion: weniger Belieferung, weniger Bevorratung, mehr Engpässe. Besonders in Zeiten multipler Krisen sind stabile Strukturen im Gesundheitswesen wichtiger denn je.
Statt bestehende Systeme durch vermeintlich neutrale Eingriffe zu belasten, sollte die Politik anerkennen, dass Versorgungssicherheit auch einen Preis hat – und dass dieser nicht durch intransparente Quersubventionen bezahlt werden kann. Ein starker Großhandel ist kein Gegenspieler der Apotheken, sondern eine ihrer Voraussetzungen.
Koalitionsvertrag setzt Signale für Pharmastandort – Industrie mahnt strukturelle Reformen an
Der gestern vorgestellte Entwurf des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD stößt in der Pharmaindustrie auf ein überwiegend positives Echo. Vertreter der Arzneimittelhersteller werten die darin enthaltenen gesundheitspolitischen und industriebezogenen Aussagen als wichtigen Impuls für die Stärkung des Pharmastandorts Deutschland. Zugleich verweisen sie auf bestehenden Nachbesserungsbedarf und fordern tiefgreifendere Reformen, um die Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens zu sichern.
Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) begrüßt insbesondere, dass zentrale Forderungen aus den Bereichen Wirtschaft, Gesundheit und Forschung Eingang in den Entwurf gefunden haben. Themen wie die Weiterentwicklung der Arzneimittelproduktion, der Ausbau der personalisierten Medizin, die Digitalisierung des Gesundheitswesens sowie die Sicherung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit gelten aus Sicht der Branche als zentral für eine zukunftsorientierte Versorgung. Der BPI sieht in der vertraglich festgeschriebenen Absicht, die Gesundheitswirtschaft zu einer Leitindustrie auszubauen, ein industriepolitisch starkes Signal und kündigt die Bereitschaft zum fortgesetzten Dialog mit der Politik an.
Auch andere Interessenvertretungen äußern Zustimmung. Der Branchenverband Pro Generika hebt die Bedeutung einer sicheren Arzneimittelversorgung hervor – insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Spannungen. Die COVID-19-Pandemie und die aktuellen Entwicklungen in der internationalen Handelspolitik hätten deutlich gemacht, wie verwundbar globale Lieferketten sind. Die geplante Stärkung der heimischen Produktion sei ein richtiger Schritt, auch wenn eine Rückverlagerung aus dem Ausland nicht pauschal umsetzbar sei. Vielmehr gehe es darum, bestehende Produktionsstandorte im Inland zu erhalten und auszubauen.
Zugleich mahnt die Industrie eine Abkehr von der bisherigen Preispolitik im Generikamarkt an. Die starke Ausrichtung auf den niedrigsten Preis habe in den vergangenen Jahren zu einer Erosion der Produktionskapazitäten in Europa geführt. Eine nachhaltige Versorgung sei nur dann gewährleistet, wenn wirtschaftlich tragfähige Rahmenbedingungen geschaffen würden. Dies betreffe nicht nur die Vergütung, sondern auch die Planungssicherheit für Hersteller.
Trotz der grundsätzlich positiven Bewertung des Koalitionsentwurfs bleibt aus Sicht der Pharmaindustrie ein entscheidender Kritikpunkt bestehen: Die strukturellen Herausforderungen im Gesundheitssystem seien bislang nicht ausreichend berücksichtigt. So verweist der BPI auf den Reformbedarf in der sektorenübergreifenden Versorgung, bei der Krankenhausplanung und insbesondere bei der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ohne tragfähige Konzepte in diesen Bereichen drohe die langfristige Stabilität des Systems gefährdet zu werden.
Der Entwurf des Koalitionsvertrags gilt damit als wichtiges Signal, aber noch nicht als abschließende Lösung. Die Branche erwartet konkrete Schritte zur Umsetzung der angekündigten Ziele und fordert eine verlässliche politische Strategie zur Sicherung des Innovations- und Produktionsstandorts Deutschland im Gesundheitswesen.
Der Entwurf des Koalitionsvertrags zeigt: Die Politik hat die Bedeutung der Pharmaindustrie als Teil der kritischen Infrastruktur erkannt. Die Aufnahme zentraler Themen wie Produktion, Versorgungssicherheit und Digitalisierung ist zu begrüßen. Doch Papier ist geduldig – entscheidend wird sein, ob den Ankündigungen Taten folgen.
Die Pharmaindustrie agiert in einem globalisierten Markt, in dem Standortentscheidungen zunehmend von politischen Rahmenbedingungen abhängen. Wer mehr Produktion nach Deutschland holen oder halten will, muss nicht nur appellieren, sondern verlässlich investieren und strukturell umsteuern. Die lange kritisierte Preisorientierung in der Generikavergabe bleibt dabei ein zentraler Stolperstein.
Zugleich darf der Blick auf das Große und Ganze nicht fehlen: Eine Reform der Krankenhauslandschaft, eine nachhaltige Finanzierung der GKV und die bessere Verzahnung ambulanter und stationärer Versorgung sind unverzichtbar, wenn man den Gesundheitssektor zukunftssicher aufstellen will. Der Koalitionsvertrag bietet dafür erste Ansätze. Ob daraus eine tragfähige Strategie wird, hängt nun vom politischen Willen zur Umsetzung ab.
Neue Reiseimpfempfehlungen 2025 – STIKO warnt vor steigenden Infektionsrisiken und betont Mückenschutz
Mit der Veröffentlichung des Epidemiologischen Bulletins 14/2025 haben die Ständige Impfkommission (STIKO) und die Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin, Reisemedizin und Globale Gesundheit e. V. (DTG) ihre Empfehlungen zu Reiseimpfungen überarbeitet. Die Anpassungen betreffen sowohl neue Impfempfehlungen für bestimmte Risikogruppen als auch aktualisierte Hinweise zur Prävention importierter Infektionen, die inzwischen auch für Deutschland relevant geworden sind.
Ein besonderer Fokus liegt auf dem Schutz vulnerabler Gruppen. Für Schwangere wurde die bisherige Empfehlung zur Dengue-Impfung klar revidiert. Sie ist nun ausdrücklich kontraindiziert während Schwangerschaft und Stillzeit. Bei älteren Reisenden rücken zwei Impfungen neu in den Vordergrund: Die COVID-19-Impfung wird ab einem Alter von 60 Jahren empfohlen, die Impfung gegen das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) ab 75 Jahren. Damit reagieren die Expertengremien auf die erhöhten Risiken schwerer Krankheitsverläufe in diesen Altersgruppen, insbesondere bei Fernreisen.
Zunehmend bedeutsam werden auch medizinische Abwägungen im Zusammenhang mit geplanten Transplantationen oder immunsuppressiven Therapien. Die Gelbfieberimpfung als Lebendimpfstoff ist in diesen Fällen kontraindiziert und sollte, falls eine Reise in Endemiegebiete vorgesehen ist, mit einem Mindestabstand von vier Wochen vor Behandlungsbeginn verabreicht werden. Diese Regelung betont die Notwendigkeit frühzeitiger reisemedizinischer Beratung.
Unklarheiten gibt es weiterhin bei der Frage nach Auffrischimpfungen. Für die Tollwut-Impfung verweist die STIKO auf eine ausreichende Immunantwort nach drei Dosen, sodass im Falle einer Exposition lediglich eine zweifache Postexpositionsprophylaxe notwendig sei. Bei der FSME-Impfung hingegen werden in Deutschland Auffrischungen alle drei bis fünf Jahre empfohlen. Neue Studiendaten aus dem Ausland legen jedoch nahe, dass auch ein zehnjähriger Intervall ausreichend Schutz bietet – ein möglicher Hinweis auf künftige Anpassungen.
Die Impfung gegen MPox bleibt eine Indikationsimpfung. Sie wird nicht generell für Reisende empfohlen, kann aber für Personen mit engem und wiederholtem Kontakt zur Lokalbevölkerung in betroffenen Regionen sinnvoll sein – etwa bei beruflichen Einsätzen oder bei Besuchen bei Verwandten und Freunden.
Für die neu zugelassenen Impfstoffe gegen das Chikungunya-Virus fehlen derzeit noch Empfehlungen der STIKO. Eine Veröffentlichung entsprechender Einschätzungen ist für Juni 2025 geplant. Bis dahin gelten allgemeine Schutzmaßnahmen, insbesondere zur Vermeidung von Mückenstichen, als wichtigste Präventionsstrategie.
In diesem Zusammenhang hebt das Bulletin die stark gestiegenen globalen Fallzahlen beim Denguefieber hervor. Allein im Jahr 2024 wurden über 24 Millionen Fälle weltweit registriert – eine Vervielfachung gegenüber dem Vorjahr. Auch Cholerainfektionen nehmen deutlich zu, vor allem in afrikanischen Regionen. Die Fachgremien warnen vor einer zunehmenden Einschleppung solcher Erreger nach Europa durch Reisende. Das Robert Koch-Institut empfiehlt deshalb, dass Reiserückkehrer aus Risikogebieten in den Sommer- und Frühherbstmonaten auch bei Abwesenheit von Symptomen über mindestens 14 Tage konsequent Mückenschutz betreiben sollten, um eine lokale Übertragung auf einheimische Stechmückenarten zu verhindern.
Erstmals wird im Rahmen der offiziellen Empfehlungen auch auf die Reiseapotheke hingewiesen. Eine Checkliste der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (Abda) soll dabei helfen, individuelle Reisevorbereitungen zu strukturieren und mögliche Versorgungslücken zu schließen.
Die aktualisierten Empfehlungen machen deutlich, dass Infektionsrisiken im Zusammenhang mit Reisen nicht nur für die Reisenden selbst relevant sind, sondern auch potenzielle Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit im Heimatland haben können. Prävention beginnt damit nicht erst im Zielland, sondern bereits bei der Entscheidung, wohin, wann und wie sicher gereist wird.
Die aktualisierten Impfempfehlungen zeigen, dass Reisemedizin längst nicht mehr nur ein Randthema für Tropenreisende ist. Die zunehmende Globalisierung, steigende Mobilität und sich verändernde Klimabedingungen führen dazu, dass Krankheitserreger auch in bislang nicht betroffenen Regionen auftauchen – und das mitunter durch unbemerkte Einschleppung durch Rückkehrer.
Besonders bemerkenswert ist der klare Appell, auch in Deutschland Mückenschutz zu praktizieren, wenn man aus Risikogebieten zurückkehrt. Die Vorstellung, dass tropische Krankheiten über den Umweg internationaler Mobilität heimische Stechmücken infizieren könnten, mag befremdlich wirken – ist aber ein realistisches Szenario, das wachsender Aufmerksamkeit bedarf.
Dass die STIKO außerdem konkrete Empfehlungen für Schwangere, ältere Menschen und immungeschwächte Patienten formuliert, zeugt von einer notwendigen Differenzierung im Impfangebot. Die Einbindung praktischer Hilfen wie die Checkliste für die Reiseapotheke ist dabei ein pragmatischer Schritt, um mehr Verantwortung in die Hände der Reisenden zu legen.
Was fehlt, ist eine stärkere öffentliche Kommunikation dieser Risiken. Nur wer gut informiert ist, wird die Dringlichkeit auch erkennen. Die Reise beginnt nicht am Flughafen – sie beginnt mit einer ärztlichen Beratung und einer fundierten Impfentscheidung.
Langzeitinjektion bei HIV: Neue Chance für Patienten mit Adhärenzproblemen
Eine neue Behandlungsform könnte für HIV-Patienten mit Schwierigkeiten bei der täglichen Medikamenteneinnahme eine wichtige Alternative darstellen. Die langwirksame antiretrovirale Injektionstherapie zeigt in der Praxis vielversprechende Ergebnisse, insbesondere bei jenen Betroffenen, die aufgrund psychosozialer Belastungen, Suchterkrankungen oder instabiler Lebensverhältnisse ihre orale Medikation nicht zuverlässig einnehmen können.
In mehreren US-amerikanischen Versorgungsprojekten wurde die Wirksamkeit der dualen Injektionstherapie mit Cabotegravir und Rilpivirin untersucht. Das Therapieprinzip: Statt täglicher Tabletteneinnahme erhalten die Patienten alle zwei Monate eine intramuskuläre Injektion. Auch bei einer initial hohen Viruslast konnte bei der Mehrheit der Patienten eine Virusunterdrückung erreicht werden. Bereits nach 24 Wochen zeigten 97 Prozent der vormals virämischen Patienten eine Viruslast unter der Nachweisgrenze, nach 48 Wochen waren es 98 Prozent. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass die Therapie auch außerhalb der bisherigen Zulassungskriterien klinisch sinnvoll eingesetzt werden könnte.
Bislang ist die Injektionstherapie in Europa und den USA nur für Patienten mit stabil supprimierter Viruslast unter oraler Therapie zugelassen. Doch die Daten aus dem klinischen Alltag legen nahe, dass auch HIV-positive Menschen mit nachgewiesener Virämie von der reduzierten Applikationsfrequenz profitieren könnten. Die Langzeittherapie eröffnet nicht nur medizinische, sondern auch strukturelle Perspektiven, da die regelmäßige Verabreichung im medizinischen Umfeld eine engere Betreuung ermöglicht. Gerade für vulnerable Patientengruppen mit multiplen Problemlagen könnte dies ein stabilisierender Faktor sein.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Weniger tägliche Medikamenteneinnahmen, reduzierte Stigmatisierungsgefahr und eine geringere Wahrscheinlichkeit, die Behandlung eigenmächtig zu unterbrechen. Dennoch gibt es auch Einschränkungen. Die Therapie erfordert eine zuverlässige Terminplanung, die für manche Patienten ebenso herausfordernd sein kann wie die tägliche Einnahme. Zudem entstehen durch die medizinische Durchführung und höheren Präparatekosten zusätzliche Belastungen, die im Gesundheitssystem aufgefangen werden müssten.
In Deutschland nimmt die Zahl der Patienten mit langwirksamer HIV-Therapie langsam zu. Die derzeit gültige Behandlungsleitlinie sieht allerdings weiterhin ein tägliches Regime vor. Ob sich dies künftig ändert, hängt auch davon ab, inwieweit neue Erkenntnisse zu einer breiteren Zulassung und entsprechenden Vergütungsregelungen führen.
Die Debatte über neue HIV-Therapieformen ist mehr als eine Frage medizinischer Innovation. Sie berührt fundamentale Aspekte der Versorgungsrealität. Denn Adhärenz ist keine individuelle Schwäche, sondern oft Ausdruck struktureller Ungleichheit. Eine Therapie, die an den Lebensumständen der Menschen ansetzt, statt sie zu ignorieren, verdient besondere Aufmerksamkeit. Die langwirksame Injektionstherapie könnte genau dort ansetzen – vorausgesetzt, das Gesundheitssystem erkennt ihren Nutzen nicht nur im Labor, sondern auch im Leben der Patienten an. Ein Paradigmenwechsel ist überfällig.
Zwischen Gesundheit und Zwang – Wenn Ernährung zur Belastung wird
Immer mehr Menschen richten ihre Lebensweise an einer gesunden Ernährung aus. Was zunächst als bewusste Entscheidung für mehr Wohlbefinden beginnt, kann in manchen Fällen in eine zwanghafte Fixierung auf „reines“ und „gesundes“ Essen übergehen. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von Orthorexie – einem Verhalten, das bislang nicht offiziell als eigenständige Essstörung anerkannt ist, in der Praxis jedoch zunehmend beobachtet wird.
Betroffene verbringen oftmals mehrere Stunden täglich mit der Planung ihrer Mahlzeiten, analysieren penibel Zutatenlisten und meiden gesellschaftliche Anlässe, bei denen sie keine Kontrolle über die angebotenen Speisen haben. Lebensmittel werden rigoros in „gut“ und „schlecht“ eingeteilt. Der Konsum von vermeintlich „verbotenen“ Nahrungsmitteln kann mit Schuldgefühlen, Angst oder sogar körperlicher Bestrafung einhergehen. Dabei folgen die Kriterien für gesunde Ernährung häufig subjektiven Maßstäben, die sich nicht zwingend an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren.
Besonders gefährdet sind Personen mit perfektionistischen Neigungen, einem hohen Kontrollbedürfnis oder einer Vorgeschichte mit anderen Essstörungen. Die Grenze zwischen gesundheitsbewusstem Verhalten und krankhafter Kontrolle ist dabei fließend. Während sich einige tatsächlich nährstoffreich und ausgewogen ernähren, geraten andere in eine Spirale aus Einschränkungen, die schließlich zu Mangelerscheinungen führen können.
Ein weiterer Risikofaktor ist der Einfluss sozialer Medien. Bilder vermeintlich idealer Körper, kombiniert mit strikten Diätvorgaben sogenannter Influencer, können insbesondere bei jungen Menschen ein verzerrtes Verhältnis zur eigenen Ernährung fördern. Zwar gibt es auch unterstützende Netzwerke, in denen sich Betroffene über ihre Problematik austauschen – insgesamt bleibt die Rolle der sozialen Medien jedoch ambivalent.
Da Orthorexie bislang nicht als eigenständiges Krankheitsbild in den gängigen Klassifikationssystemen geführt wird, fehlen standardisierte Diagnosekriterien. Dies erschwert die wissenschaftliche Einordnung ebenso wie die Entwicklung therapeutischer Leitlinien. Erste Ansätze orientieren sich an bewährten Methoden der Essstörungstherapie. Ziel ist es, den Zwang durch ein flexibleres und alltagskompatibles Essverhalten zu ersetzen – ohne dabei die Grundwerte der betroffenen Person infrage zu stellen.
Die Dunkelziffer der Betroffenen bleibt unklar. Einzelne Studien weisen auf erhöhte Prävalenzwerte in bestimmten Berufs- und Altersgruppen hin, etwa bei sportlich aktiven Studierenden oder in der Ernährungsberatung. In der breiten Bevölkerung wird die Häufigkeit orthorektischen Verhaltens hingegen auf unter ein Prozent geschätzt.
Orthorexie entwickelt sich oft schleichend und bleibt lange unerkannt. Die Auswirkungen auf das soziale Leben, das psychische Gleichgewicht und die körperliche Gesundheit können jedoch erheblich sein. Fachleute warnen daher davor, Gesundheitsbewusstsein mit Kontrolle zu verwechseln – und fordern mehr Aufmerksamkeit für die psychologischen Hintergründe übersteigerter Ernährungsideale.
Die Grenze zwischen vernünftigem Gesundheitsstreben und zwanghaftem Kontrollverhalten verläuft unscharf – gerade im Bereich der Ernährung. Orthorexie ist kein modischer Ernährungstrend, sondern Ausdruck tieferliegender psychischer Muster, die häufig aus einem Bedürfnis nach Sicherheit, Kontrolle oder Selbstwert resultieren. Dass dieser Zustand derzeit nicht als Krankheit anerkannt ist, spiegelt weniger seine Bedeutung als vielmehr die Lücken in Forschung und System wider.
Gleichzeitig zeigt das Phänomen, wie stark gesellschaftlicher und digitaler Druck auf das individuelle Essverhalten wirken kann. Wenn Nahrung zur moralischen Frage und soziale Teilhabe zur Belastung wird, braucht es kein offizielles Etikett, um den Ernst der Lage zu erkennen. Es braucht Sensibilität, Aufklärung und den Mut, auch vermeintlich gesunde Verhaltensweisen kritisch zu hinterfragen.
Denn echte Gesundheit misst sich nicht an Disziplin, sondern an Lebensqualität.
Von Engin Günder, Fachjournalist