Zehn Jahre nach der Entlassung der „Pille danach“ aus der Verschreibungspflicht zieht der Kölner Apotheker Dirk Vongehr eine ernüchternde Bilanz. In einem öffentlichen Statement kritisiert er die anhaltend mangelhafte Beratungspraxis in Apotheken scharf. Er spricht von einem „eklatanten Informationsdefizit“ unter seinen Kolleginnen und Kollegen und mahnt an, dass die Beratung häufig nicht dem gebotenen ethischen Standard entspreche. Frauen in Ausnahmesituationen würden teilweise bevormundet oder mit unvollständigen Informationen abgespeist. Dies stelle nicht nur ein fachliches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem dar, das dringend einer Aufarbeitung bedürfe.
Parallel geraten Apotheken in Deutschland zunehmend unter wirtschaftlichen Druck. Ein besorgniserregender Trend ist die steigende Zahl gefälschter Rezepte, mit denen Täter gezielt teure Medikamente wie GLP-1-Rezeptoragonisten oder Hormonpräparate erschleichen. Professionell agierende Tätergruppen nutzen Lücken im Kontrollsystem und setzen Apotheken damit erheblichen Risiken aus. Die Folgen sind nicht nur wirtschaftlicher Natur – etwa durch hohe Retaxationen der Krankenkassen –, sondern auch rechtlicher Art, da betroffene Apotheken unter Umständen in den Verdacht fahrlässiger Prüfpflichtverletzungen geraten können. Dies führt zu einer angespannten Gemengelage, in der sich viele Betriebe in ihrer Existenz bedroht sehen.
Auch betriebswirtschaftlich ergeben sich neue Anforderungen an das Apothekenmanagement. Immer stärker in den Fokus rückt die Dokumentation sogenannter Neinverkäufe – Situationen also, in denen ein gewünschtes Produkt nicht vorrätig ist. Diese Informationen wurden lange als nebensächlich behandelt, doch mittlerweile erkennen viele Apotheken darin ein strategisches Instrument zur Optimierung von Lagerbestand und Kundenbindung. Die konsequente Erfassung solcher Fälle ermöglicht Rückschlüsse auf Sortiment, Lieferfähigkeit und Nachfrageverhalten – und bietet damit einen entscheidenden Hebel zur Verbesserung des betriebswirtschaftlichen Ergebnisses.
Im OTC-Geschäft zeichnet sich derweil eine leichte Erholung ab. Nach einer Phase der Stagnation, die durch geändertes Konsumverhalten und reduzierte Kundenfrequenz geprägt war, melden Apotheken im ersten Quartal des Jahres einen Zuwachs. Die abgegebenen Packungen stiegen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 4,3 Prozent, der Umsatz legte sogar um 6,8 Prozent zu. Branchenexperten werten dies als Signal einer beginnenden Trendwende – auch wenn die Kundenfrequenz insgesamt weiterhin unter den Erwartungen bleibt.
Mit Blick auf die Versorgungslage bleibt die Situation angespannt. Das Diabetes-Medikament Ozempic war kurz vor einer kräftigen Preisanhebung vielerorts nicht mehr verfügbar. Noch bevor die angekündigte Erhöhung um rund 30 Prozent zum 1. April in Kraft trat, berichteten Apotheken und Großhändler von leergefegten Lagern. Der Eindruck einer gezielten Zurückhaltung seitens des Herstellers steht im Raum, offizielle Bestätigungen gibt es hierzu jedoch nicht. Die Patienten trifft die Knappheit empfindlich – nicht nur wegen der Kosten, sondern vor allem wegen ausbleibender Therapien.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich beim Online-Giganten Amazon, der seine Gesundheitsambitionen weiter testet. Im Rahmen des Pilotprojekts „Project Pulse“ wurden in mehreren europäischen Städten Lieferfahrer zu freiwilligen Ersthelfern geschult. Die Fahrer wurden über Notfall-Apps benachrichtigt, sobald medizinische Notfälle in ihrer Nähe registriert wurden – insbesondere bei Verdachtsfällen auf Herzinfarkte. In manchen Fällen erreichten sie die Einsatzorte noch vor dem Rettungsdienst. Das Projekt wirft Fragen auf zur Verantwortung privater Unternehmen im Gesundheitswesen, birgt aber auch Potenzial, die Zeit bis zur Erstversorgung deutlich zu verkürzen.
Im internationalen Kontext sorgt eine Studie zum Oropouche-Virus für Aufsehen. Über 9.400 Blutproben aus mehreren lateinamerikanischen Ländern wurden untersucht, und in 6,3 Prozent der Fälle fanden sich Antikörper gegen das Virus. Besonders alarmierend ist die hohe Dunkelziffer: Viele Infektionen bleiben unbemerkt, da sie symptomarm verlaufen und mangels Labordiagnostik unerkannt bleiben. Das Virus, das von Insekten übertragen wird, kann grippeähnliche Symptome verursachen und steht exemplarisch für die wachsenden epidemiologischen Herausforderungen in tropischen Regionen.
Auch in Deutschland warnt das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) vor einer bislang wenig bekannten Gefahr im Alltag: der unbeabsichtigten Übertragung hormonhaltiger Medikamente auf Haustiere. Vor allem Hunde und Katzen können durch Kontakt mit Salben, Gelen oder Sprays, die Menschen zur Hormonersatztherapie oder Testosteronbehandlung nutzen, gesundheitliche Schäden erleiden. Symptome reichen von Verhaltensänderungen bis hin zu schwerwiegenden hormonellen Störungen. Tierhalter werden dringend aufgefordert, den Kontakt ihrer Haustiere mit behandelten Hautstellen zu vermeiden.
Eher unterschätzt wird ein weiteres Gesundheitsrisiko im häuslichen Umfeld: Vogelkot auf Fenstern, Möbeln und Terrassenflächen. Insbesondere bei höheren Temperaturen birgt der Kontakt mit getrocknetem Vogelkot Infektionsrisiken. Er kann Bakterien, Pilze und Viren enthalten, die über Hautkontakt oder eingeatmeten Staub in den menschlichen Organismus gelangen. Experten empfehlen deshalb eine regelmäßige Reinigung betroffener Flächen und das Tragen von Handschuhen beim Entfernen der Verunreinigungen.
Neue Hoffnung im Bereich der Prostatakrebs-Früherkennung kommt von der Forschung: Ein genetischer Speicheltest auf Basis eines sogenannten polygenetischen Risikoscores könnte die bisher eingesetzten PSA-Bluttests in ihrer Treffsicherheit deutlich übertreffen. Der Test analysiert 130 genetische Varianten im Speichel und ermöglicht so eine individuellere Risikoeinschätzung. Besonders für aggressive Tumorformen zeigt die Methode vielversprechende Ergebnisse. Sollte sich die Technik in der klinischen Praxis etablieren, könnte sie einen Paradigmenwechsel in der Früherkennung einleiten – mit großem Potenzial für die betroffene Patientengruppe.
Kommentar:
Zehn Jahre nach der Entlassung der „Pille danach“ aus der Verschreibungspflicht und angesichts immer neuer Herausforderungen im Apothekenalltag drängt sich eine unbequeme Wahrheit auf: Vieles, was regulatorisch erleichtert wurde, ist im praktischen Alltag noch immer ungenügend umgesetzt oder von neuen Problemen überlagert. Die scharfe Kritik des Kölner Apothekers Dirk Vongehr ist mehr als ein Weckruf – sie ist ein Spiegel für den Zustand eines Berufsstandes, der sich zu oft mit organisatorischer Last statt mit fachlicher Exzellenz beschäftigen muss. Wenn Frauen in Notsituationen auf lückenhafte Beratung stoßen, dann ist das nicht nur ein Versäumnis – es ist ein ethisches Armutszeugnis.
Gleichzeitig sehen sich Apotheken mit Bedrohungen konfrontiert, die strukturell viel zu lange unterschätzt wurden. Rezeptfälschungen, Retaxationen, Lieferengpässe – das sind keine Ausreißer mehr, sondern systemische Risiken. Sie treffen auf einen Berufsstand, der unter hohem wirtschaftlichem Druck steht und sich nur mit Mühe gegen die nächsten digitalen Gesundheitsambitionen großer Konzerne wie Amazon behaupten kann. Wenn Logistikunternehmen plötzlich in die Notfallversorgung einsteigen, während in Apotheken die Grundversorgung stockt, läuft etwas gewaltig schief.
Dabei gibt es durchaus Lichtblicke: Die wirtschaftliche Erholung im OTC-Markt, das wachsende Bewusstsein für betriebswirtschaftliche Werkzeuge wie die Dokumentation von Neinverkäufen oder neue Früherkennungsverfahren wie der genetische Speicheltest für Prostatakrebs zeigen, dass Innovation auch in der Fläche ankommt. Doch diese Entwicklungen werden nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie von einer starken, gut ausgebildeten und ethisch verantwortungsvollen Apothekenschaft getragen werden.
Was es jetzt braucht, ist kein Zögern, sondern Klartext – politisch, wirtschaftlich und standesintern. Apotheken sind kein Anachronismus, sie sind systemrelevant. Aber sie müssen wieder zum Ort fachlicher Kompetenz und menschlicher Zuwendung werden. Wer diesen Anspruch aufgibt, überlässt das Feld jenen, die Gesundheit als Geschäftsmodell verstehen – ohne ethischen Kompass.
Von Engin Günder, Fachjournalist