In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es insgesamt über 1.000 Branchensoftwarehäuser die spezialisierte Lösungen (ERP und Warenwirtschaftslösungen) anbieten. Deren Unternehmens-größe unterscheidet sich erheblich – vom 1-Mann-Unternehmen bis zum SAP-Konzern.
Ende der 90er Jahre ging man in der IT-Branche davon aus, dass sich die Anzahl der Branchen-softwareanbieter auf "eine Handvoll" reduziert. Getrieben wurde diese Sichtweise von Beobachtungen in Branchensegmenten, wie z.B. den Anbietern von Lösungen für Ärzte und Zahnärzte.
Die CompuGroup Medical AG, inzwischen ein internationaler Konzern und die medatixx GmbH & Co. KG kauften bis dato alle wesentlichen großen Anbieter auf – dennoch überlebten viele kleine Anbieter in diesem Marktsegment, die offensichtlich ihr Zielpublikum gefunden haben, die ihnen regelmäßige Einnahmen in Form von Wartungsverträgen garantieren.
Durch neue Cloudlösungen kommen z.Zt. immer mehr neue Branchensoftwareanbieter auf den Markt und schaffen es stetig zu wachsen – ohne den Ballast von alten Lösungen berücksichtigen zu müssen.
Einerseits kann man feststellen, dass der Markt für Branchensoftwareanbieter noch bunter und vielfältiger geworden ist. Andererseits gehen jährlich lt. Statistik seit über 8 Jahren über 500 IT-Unternehmen in die Insolvenz.
Überlegung Nr. 1 "Zielgruppe(n)"
Die adressierten Zielgruppen der Softwareanbieter spielen eine wichtige Rolle in der Bewertung von Branchensoftwareunternehmen. Zielmarktgröße und der Zustand der Branche bestimmen die Vertriebschancen.
Die starke Konsolidierung die sich in vielen Branchen vollzieht – wird auch zu einer Konzentration auf weniger Softwareanbieter und Dienstleister führen und damit zunächst das Geschäftsrisiko erhöhen.
Bewegen sich IT-Unternehmer in einer sich konsolidierenden Branche, stellt sich die Frage, ob sie durch Zukauf von Wettbewerbern ihre Marktposition verstärken, oder ein 2.tes Standbein aufbauen – dies ist in der Regel mit größeren Risiken behaftet – vor allem wenn die Anforderung der "neuen" Branche nicht bekannt sind.
Dieses "Dilemma" ist nur durch eine strukturierte, konsequente Vorgehensweise zu beheben, um erfolgreich ein 2. tes Standbein aufzubauen.
Überlegung Nr. 2 "Vertriebswege"
Der Direktvertrieb für Branchensoftware hat Tradition bei den größeren Softwareanbietern. Kleinere können sich aufgrund des reduzierten Preis-/ Leistungsverhältnisses einen Direktvertrieb nicht leisten. Oft werden Vertriebler eingestellt die nach 2-3 Jahren Erfolg haben und Neukunden gewinnen. Das Betriebsergebnis erhöht sich aufgrund der Kosten aber meist erst Jahre später.
Deshalb kommt dem Vertrieb über Partner/Wiederverkäufern oder Vertriebsplattform eine besondere Bedeutung zu. Das Management von Vertriebspartnerschaften ist aber nicht einfach und verlangt eine hervorragende Pflege der Partner – ansonsten "funktionieren" sie nicht richtig.
Eine Differenzierung zum größeren Wettbewerber über den Preis ohne Alleinstellungsmerkmale, wird mittel bis langfristig dazu führen, dass mit wachsender Funktionalität die Leistungen weiter hinter dem Wettbewerb bleiben. Die Finanzierung neuer Softwaregenerationen mit KI, etc. wird damit ebenfalls sehr viel schwerer gelingen.
Überlegung Nr. 3 "Unternehmens - Dashboard"
Branchensoftwareunternehmen benötigen einen ständigen „Flow“ von Neukunden. Warum ist das so?
- Kunden gehen in die Insolvenz
- Kunden werden aufgekauft
- Kunden wechseln zu einen anderen Dienstleister
- Kunden finden keinen Nachfolger und schliessen das Unternehmen
- Die Branche befindet sich in einer Krise.
- Gibt es genügend Leads?
- Welche Qualität haben die Leads?
- Wie hoch ist die Abschluss Wahrscheinlichkeit?
- Das Instrument des "Rolling Forecast" sollte beherrscht und genutzt werden, denn es ermöglicht rechtzeitig "Umsatzdellen" zu entdecken und aktiv zu handeln.
Wir beobachten immer wieder, dass Branchensoftwareanbieter – jahrelang – an einer neuen Softwaregeneration arbeiten ohne, dass ein Ende abzusehen ist. Manche Branchensoftwarehäuser haben sich hierbei auch übernommen.
Die Kontrolle über die Sprintplanung und der abgearbeiteten Sprints in der Softwareentwicklung reduzieren Fehlentwicklungen erheblich.
Überlegung Nr. 4 "Wartungsverträge"
Ein wesentlicher Faktor zur Absicherung des Unternehmens sind die Wartungsverträge. Dabei spielen folgende Punkte eine besondere Rolle:
- Die Höhe der Wartungsverträge vom Lizenzumsatz (i.d.R. 18% p.a.) mindestens!
- Die Laufzeit der Wartungsverträge (jährlich, halb-jährlich, 1/4 -jährlich, monatlich)
- Der Abschluss von Wartungsverträgen sollte bei Kunden fakultativ sein.
Sobald der Neuverkauf von Lizenzen nicht wie geplant eintritt, oder z.B. branchenbedingt der Anteil der Wartungsverträge sinkt, entsteht finanzieller Druck.
Da Kunden z.B. aufgrund von Arbeitsplatzeinsparungen Sites kündigen, ist der Abschluss neuer Wartungsverträge bzw. die Gewinnung von Neukunden unumgänglich und eine Wachstumsstrategie notwendig, da ansonsten der Bestand an Kunden sinkt.
Überlegung Nr. 5 "Produkteinsatzmöglichkeit beim Kunden"
Unter Produkteinsatzmöglichkeit beim Kunden ist die Verbreitung – Multiplikationsfähigkeit – zu verstehen. Viele Branchenlösungen sind aus Kundenprojekten entstanden, die sich im Laufe der Jahre zu Branchenprodukten entwickelt haben.
Allerdings sind Branchen bedingt, oft hier rudimentäre Lösungen entstanden, um die herum viele "customized" Module entwickelt wurden. Auch wenn wir hier von Branchensoftware sprechen können – entspricht dieses Geschäftsmodell mehr dem eines Projektunternehmens. Dies bedeutet Abhängigkeit von der Gewinnung größerer Projekte – und damit eine hohe Konjunkturanfälligkeit.
Kurzfristig ist dieses Manko nicht zu beheben, deshalb ist hier eine strategische Planung zur Umorientierung notwendig.
Überlegung Nr. 6 "Kundengröße"
Die Abhängigkeit von Einzelkunden bedeutet immer für den Inhaber ein hohes Risiko. Viele Kunden machen ein Branchensoftwarehaus für andere Kunden attraktiver und sichern das Unternehmen ab, weil das Clusterrisiko sinkt.
Deshalb ist es wichtig einen maßgeblichen Marktanteil zu gewinnen. Viele kleine Kunden reduzieren das Kündigungsrisiko zwar nahezu auf Null, aber diese sind i.d.R. schwerer als Neukunden zu gewinnen. Dies bedeutet, das die Vertriebskosten tendenziell höher sein müssten oder der Vertriebsweg über social media etc. professionell und erfolgreich etabliert werden muß.
Der Wechsel der Zielkundengröße sollte nicht unterschätzt werden, denn unbekannte Kundengrößen haben ihre "speziellen" Problematiken. Erweitert z.B. ein ERP-Anbieter der bisher größere Kunden hatte auf kleinere Kunden, kann er so seine Überraschungen erleben. Einführungsprojekte die bei größeren Kunden mehr oder weniger harmonsisch erfolgreich abgewickelt werden können, scheitern bei kleinen Kunden, weil diese ggfls. keine Projektkompetenz haben.
Der Autor, Andreas Barthel, Geschäftsführer der connexxa Services Europe Ltd. berät IT-Unternehmer beim Unternehmens-zu und -verkauf sowie bei der Bewertung von IT-Unternehmen.