Die Feststellung des US-amerikanischen Schiffbau-Pioniers Henry John Kaiser, Probleme seien Chancen in Arbeitskleidung, stellt einen ausgezeichneten Einstieg in das Thema Fachkräftemangel dar. Derzeit muss es sich die knappe mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit mit einer anderen epochalen Herausforderung teilen: der Energiekrise. Ohne Kenntnisnahme der entsprechenden Beiträge weiß man nicht mehr, auf welches der beiden Themen aktuelle Schlagzeilen wie „Standort in Gefahr“ gemünzt sind. Fakt ist: die Babyboomer verlassen den Arbeitsmarkt. Das Vakuum, das sie hinterlassen, macht sich bereits bemerkbar. Neben den akuten wirtschaftlichen Folgen ist langfristig mit einem signifikanten Wissensverlust zu rechnen.
Zahlreich sind die in dem Zusammenhang diskutierten Lösungsansätze. Die Reform des Einwanderungsrechts war zuletzt einer davon. Einen Königsweg wird es hier allerdings kaum geben können. In jedem Fall gehört zum notwendigen Maßnahmenmix das Schließen von Vakanzen in Unternehmen durch die Weiterqualifizierung des vorhandenen Personals. Über die Potenziale und die natürlichen Grenzen dieses Ansatzes sprachen wir mit HDT-Fachbereichsleiter Dr. Uwe Schröer, der für zahlreiche Ausbildungen und Zusatzqualifikationen bei Deutschlands ältestem technischen Weiterbildungsinstitut verantwortlich ist.
HDT-Journal: Herr Schröer, noch vor nicht allzu langer Zeit verging kaum eine Woche, ohne dass irgendwo in den Medien konkrete Listen mit Jobs veröffentlicht wurden, die aufgrund des Siegeszuges künstlicher Intelligenz angeblich bald wegfallen sollten; von Blue bis White Collar. Nun herrscht im Gegenteil überall Personalmangel. Wie erleben Sie die Situation?
Uwe Schröer: Neue Entwicklungen werden ja häufiger als Bedrohung wahrgenommen. Medien greifen das gern auf, um mit der vermeintlichen Bedrohung und der daraus resultierenden Angst entsprechende Aufmerksamkeit zu generieren. Mit Abstand betrachtet zeigt sich jedoch häufig, dass sich auch Chancen bieten. Ich denke, dass es sich so ähnlich auch bei dem Thema KI verhält.
Die Entwicklung hin zum Fachkräftemangel war leider nicht unvorhersehbar. Betrachten wir die demografische Entwicklung, so zeigt sich, dass wir hinsichtlich der Altersverteilung in der Bevölkerung schon lange die Idealform der Pyramide verlassen haben. Es werden in den nächsten Jahren die sogenannten „Boomer“ aus der Erwerbstätigkeit in den Ruhestand wechseln. Das Schrumpfen des Anteils der Erwerbstätigen in unserer Bevölkerung ist ein stetiger Prozess, der sich nicht durch kurzfristige Maßnahmen kompensieren lässt.
Dass der Fachkräftemangel da ist, erlebe ich regelmäßig bei Gesprächen mit den Teilnehmenden unserer Veranstaltungen. Kleine mittelständische Unternehmen sind leider am stärksten betroffen, da größerer Unternehmen nicht selten attraktiver für Fachkräfte sind. Ob dadurch die Diversität in den mittelständischen Unternehmen langfristig bestehen bleibt, ist fraglich.
HDT-Journal: Wie jüngst einem Beitrag auf Deutschlandfunk Kultur zu entnehmen war, träumen manche offenbar vom Wegfall der „protestantischen Arbeitsmoral“ und einer „Umkehrung der Kräfteverhältnisse“ am Arbeitsmarkt als Ausfluss des Fachkräftemangels [1]. Wird eine derart auf die sozioökonomische Dimension verengte Betrachtung dem gegenwärtigen Ernst der Lage gerecht?
Uwe Schröer: Eine rein marktwirtschaftliche Betrachtung des Fachkräftemangels unter dem Aspekt von Angebot und Nachfrage ist sicherlich möglich, aber birgt auch Gefahren in sich. Es soll hierbei nicht infrage gestellt werden, dass produktive Fachkräfte eine faire Entlohnung erhalten sollen.
Werden Fachkräfte für kleine Unternehmen aber unerschwinglich, während sie die Arbeitskosten bei großen Unternehmen extrem ansteigen lassen, kann dies zu einer weiteren Verschlechterung der Situation führen. Kleinere Unternehmen können dann aufgrund des Fachkräftemangels bestehende Aufträge nicht mehr bedienen oder müssen ihr Portfolio reduzieren. Dieser Prozess wird durch eine Mehrbelastung der Mitarbeitenden im Unternehmen für eine gewisse Zeit abgefangen. Langfristig ist diese Entwicklung ohne Gegenmaßnahmen nicht aufzuhalten. Als Folge könnte der Mittelstand im Segment der kleinen Betriebe geschwächt werden. Große Unternehmen kämpfen hingegen mit erhöhten Arbeitskosten und verlieren dadurch ihre Wettbewerbsfähigkeit vor allem im internationalen Markt, der für unsere Exportwirtschaft von zentraler Bedeutung ist. Das Szenario einer schrumpfenden Gesamtwirtschaft ist sicherlich nicht unrealistisch. Angesichts der durch die Energiekrise bereits angespannten Lage scheint eine umsichtige Handlungsweise angebracht.
HDT-Journal: Sie beschäftigen sich im HDT unter anderem mit den Themenfeldern Maschinenbau, Produktion und Logistik. So universell die deutsche Wirtschaft den Fachkräftemangel inzwischen spürt – hier sind die Folgen nochmals schwerwiegender. Welchen Stellenwert hat das Phänomen für Sie bei der Entwicklung von neuen Weiterbildungsangeboten?
Uwe Schröer: Wir als Weiterbildungseinrichtung beobachten die Situation sehr sorgfältig und leiten daraus auch einen Arbeitsauftrag für uns ab. Eine effektive Gegenentwicklung zu der aktuellen Situation basiert auf einer Vielzahl unterschiedlichster Maßnahmen, die nur zusammen effektiv wirken können. Unser Beitrag spiegelt sich in unserem Weiterbildungsangebot wider. Unsere Weiterbildungen sollen die Teilnehmenden dazu befähigen, das notwendige Wissen zur Steigerung der Flexibilität und des Innovationspotenzials in ihre Unternehmen hineinzutragen. Als Beispiel sei hier die Veranstaltung zum Thema der modularen Anlagen in der Prozessindustrie angeführt. Hier beschreiben unsere Vortragenden den Weg hin zu einer wesentlich flexibleren Produktion, die weiterhin wettbewerbsfähig bleiben kann. Unter dem Titel „Systematische und kreative Produktentwicklung“ fokussieren wir uns auf die Weiterentwicklung des Innovationspotenzials. Aber auch die herkömmliche fachliche Weiterbildung der Mitarbeitenden trägt neues Wissen in die Unternehmen, das zu ihrer Stärkung beiträgt. Eigentlich ist das aber gar keine neue Idee, sondern war in Grundzügen bereits Teil des Gründungsgedankens des HDT vor 95 Jahren.
HDT-Journal: In welchen Bereichen ist Ihrer Erfahrung nach grundsätzlich die interne Weiterqualifizierung in Betrieben praktikabel beziehungsweise angeraten, um dem Personalmangel entgegenzuwirken?
Uwe Schröer: Durch eine Weiterbildung können wir heute leider – oder glücklicherweise – keine Arbeitskraft erschaffen oder vervielfältigen. Was Weiterbildung zu leisten vermag, das ist die Optimierung der Effizienz einer Arbeitskraft. Durch Weiterbildung können den Fachkräften Methoden und Prozesse vermittelt werden, die einen effizienteren Einsatz ihrer Arbeitskraft ermöglichen und damit die Produktivität erhöhen. Damit es hier zu einer reibungslosen Umsetzung kommen kann, ist es für uns von zentraler Bedeutung, dass wir nicht nur abstraktes Wissen vermitteln, sondern auch die konkreten Erfahrungen. So muss die Fachkraft nicht den Prozess von Trial and Error durchlaufen, sondern kann das Erlernte direkt fehlerfrei umsetzen.
HDT-Journal: Und wo liegen die Grenzen? Plakativ gesagt: Aus einer Vermessungstechnikerin macht man durch ein paar Seminare keine IT-Security-Expertin, aus einem Kfz-Mechatroniker keinen Bauingenieur.
Uwe Schröer: Die erste und auch wichtigste Grenze der Weiterbildung liegt in der Fachkraft selbst. Das sogenannt „Mindset“ muss stimmen. Teilnehmende einer Weiterbildung müssen die Bereitschaft zum Lernen und zur Veränderung mitbringen. Im Zusammenspiel mit der notwendigen Fachkompetenz sind dies die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Weiterbildung.
Weiterbildungen können in der Tat keinen Bauingenieur aus einem Kfz-Mechatroniker hervorbringen. Aber sie können in einem gemeinsamen Prozess mit der aktiven Beteiligung der Fachkraft aus einem Kfz-Mechatroniker einen effizienteren Kfz-Mechatroniker machen. Diese Fachkraft kann dann durch schnellere, flexiblere und robustere Prozesse mit dem gleichen Einsatz mehr bewegen. Dadurch wird diese Fachkraft automatisch wertvoller für das Unternehmen. Daher sollte die Teilnahme an Weiterbildung zur eigenen Entwicklung ein intrinsischer Wunsch jeder Fachkraft sein.
HDT-Journal: Vor einiger Zeit hatten wir hier Reinhard Botek von „Welt der Logistik“, der uns Einblicke in die Lage im Transportwesen liefern konnte [2]. Dabei ging es auch um die fortschreitende Automatisierung als weitere Möglichkeit, dem Fachkräftemangel zu begegnen. Wie ist Ihre Einschätzung?
Uwe Schröer: Wie viele neue Entwicklungen in der Arbeitswelt sollte die Automatisierung unter anderem auch die Arbeitsbedingungen der Fachkräfte verbessern. Die Automatisierung ist durchaus in der Lage, sich wiederholende Arbeitsabläufe abzudecken. Diese Abläufe werden in der Regel nicht von Fachkräften durchgeführt, daher kann ein höheres Maß der Automatisierung dem Fachkräftemangel häufig nur indirekt entgegenwirken. Die einzelne Fachkraft kann durch das Zusammenspiel mit der Technik entlastet werden. Dadurch können auf der Seite der Fachkraft Kapazitäten geschaffen werden, um sich komplexeren Aufgabenstellungen zu widmen. Zusammen mit anderen Maßnahmen, kann die Automatisierung so die Symptome des Fachkräftemangels abmildern.
HDT-Journal: Herr Schröer, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Die Fragen stellte Michael Graef, Chefredakteur HDT-Journal
Quellen:
[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/arbeitsmarkt-fachkraeftemangel-als-chance-100.html
[2] https://www.hdt.de/hdt-journal/im-gespraech-reinhard-botek-fachkraeftemangel-in-der-logistikbranche