Mit einem Urteil, das weit über den konkreten Fall hinausweist, hat der Bundesgerichtshof (BGH) dem Internetgiganten Amazon eine scharfe Grenze gesetzt: Der Vertrieb von apothekenpflichtigen, aber nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten (OTC-Produkte) über die Plattform verstößt gegen europäisches Datenschutzrecht, wenn keine vorherige ausdrückliche Einwilligung der Kundinnen und Kunden zur Datenweitergabe erfolgt. Geklagt hatte ein Münchener Vor-Ort-Apotheker, dessen Klage den Stein ins Rollen brachte. Der BGH stellte klar, dass Gesundheitsdaten, selbst wenn es sich nicht um rezeptpflichtige Arzneimittel handelt, besonders sensibel seien und eines hohen Schutzniveaus bedürften.
Der konkrete Anlass: Amazon hatte personenbezogene Bestelldaten, darunter Informationen über Gesundheitsprodukte, ohne aktives Opt-in an Dritthändler weitergegeben. Diese Praxis verletze die Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), so das Gericht. In der Folge haben zahlreiche Händler den Versand entsprechender Produkte über den Marktplatz gestoppt – zumindest vorübergehend. Es fehlen derzeit die technischen Voraussetzungen, um rechtssicher Einwilligungen für die Datenweitergabe einzuholen. Besonders für kleine und mittlere Anbieter bedeutet das einen gravierenden Einschnitt in ihr Geschäftsmodell. Wer auf Amazon als zentralen Vertriebskanal setzte, steht nun vor einem finanziellen Vakuum.
Doch bei aller Relevanz des Urteils offenbart sich eine grundlegende Schwäche: Das Geschäftsmodell der Plattformökonomie bleibt unangetastet. Weder greift das Urteil in die Systemarchitektur von Amazon ein, noch verändert es die Mechanik digitaler Marktmacht. Der Versandriese wird zweifellos zeitnah technische Lösungen implementieren, die den formalen Datenschutzanforderungen gerecht werden – ohne dass sich die strukturellen Machtverhältnisse auch nur im Geringsten verschieben. Die Händler werden zurückkehren, der Verkauf wieder anlaufen, das Urteil in der öffentlichen Wahrnehmung verpuffen.
Hinzu kommt, dass das Urteil die grundlegende Frage ausklammert, ob es überhaupt angemessen ist, dass Plattformen wie Amazon mit ihrer Logik von Tempo, Preis- und Mengendruck zunehmend auch in regulierte Gesundheitsmärkte eindringen. Was bedeutet es für das System der Arzneimittelversorgung, wenn globale Konzerne die Vertriebslogik dominieren und die Rolle der Vor-Ort-Apotheken auf lokale Randerscheinungen reduziert wird? Diese Debatte bleibt ausgeklammert – der rechtliche Sieg des Apothekers wird dadurch zum symbolischen Akt, ohne strategische Wirkung.
Kommentar:
Man möchte dem klagenden Apotheker gratulieren – doch der Glückwunsch bleibt hohl. Denn so deutlich das Urteil des BGH in der Sache ist, so wirkungslos ist es in der Struktur. Der Fall offenbart eine paradoxe Gemengelage: Ein kleines Unternehmen erzwingt ein Urteil gegen einen globalen Konzern, das in seiner Tragweite theoretisch bahnbrechend sein könnte – praktisch aber kaum mehr ist als ein juristisches Seitenmanöver. Denn Amazon, ausgestattet mit Milliardenbudget und technischem Know-how, wird die rechtlichen Anforderungen in kürzester Zeit erfüllen. Nicht, weil der Konzern Datenschutz „verstanden“ hat, sondern weil er ihn als betriebswirtschaftlichen Compliance-Faktor behandelt.
Der eigentliche Skandal liegt woanders: In der politischen Apathie gegenüber der schleichenden Aushöhlung regulierter Märkte durch Plattformlogiken, die auf Skalierbarkeit, Datenverwertung und Margendruck ausgelegt sind. Dass der Staat nicht verhindert, dass eine Plattform wie Amazon strukturell in Versorgungsräume vordringt, ohne dabei demokratisch kontrollierbar zu sein, ist Ausdruck politischer Nachlässigkeit – nicht digitaler Modernität. Wer den Zugang zu Gesundheitsprodukten primär über Logistik-Algorithmen organisiert, verschiebt Verantwortung vom Gemeinwohl zur Gewinnmaximierung.
Das Urteil des BGH ist wichtig – aber es ist zu wenig. Es braucht eine politische Debatte über die Grenzen der Plattformökonomie, gerade im Gesundheitsbereich. Datenschutz allein wird nicht reichen, um das Gleichgewicht zwischen digitalem Fortschritt und ethischer Versorgung zu wahren. Wenn der Staat nicht beginnt, Regeln für strukturelle Macht zu setzen, werden auch die besten juristischen Einzelerfolge zur Randnotiz – und Plattformen wie Amazon schreiben die Spielregeln weiter selbst.
Von Engin Günder, Fachjournalist