Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Verkauf von rezeptfreien Medikamenten über Amazon zeigt erste konkrete Folgen. Rund einen Monat nach dem Urteil sind laut Branchenkreisen rund 40 Versandapotheken wegen wettbewerbsrechtlicher Verstöße abgemahnt worden. Der Vorwurf: unzulässige Kooperationen mit Amazon beim Vertrieb von OTC-Arzneimitteln. Die rechtliche Auseinandersetzung, die das Spannungsfeld zwischen Plattformökonomie und Arzneimittelsicherheit offenlegt, hat damit eine neue Eskalationsstufe erreicht – mit möglicherweise langfristigen Folgen für den Versandhandel.
Parallel dazu wächst der Druck auf Apotheken, Rezeptfälschungen besser zu erkennen. Die Fälschungen werden professioneller, die Risiken für Patientensicherheit und Betrug steigen. In Reaktion auf diese Entwicklung hat der Softwareentwickler Habib Chalhoub ein digitales Tool zur schnellen Überprüfung der lebenslangen Arztnummern (LANR) entwickelt. Es soll Apothekenteams eine Möglichkeit bieten, zweifelhafte Verordnungen in Sekunden zu verifizieren. Die Initiative kommt zu einem Zeitpunkt, in dem die Apotheken vor Ort mit einem wachsenden Vertrauens- und Sicherheitsdruck konfrontiert sind.
Gleichzeitig bleibt die Frage virulent, was Versandapotheken eigentlich besser machen. Ein Team der Uhlen-Apotheken im Oldenburger Umland wollte es genau wissen und befragte Kundinnen und Kunden direkt im Supermarkt. Die Antworten offenbaren ein diffuses Bild: Die Befragten loben die Bequemlichkeit des Versandmodells, kritisieren aber gleichzeitig mangelnde Beratung und lange Lieferzeiten. Die Apotheke vor Ort wird zwar als zuverlässiger bewertet – jedoch oft erst im Akutfall oder bei Komplikationen aufgesucht. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass es den klassischen Apotheken kaum gelingt, ihre Vorteile aktiv zu kommunizieren – ein Umstand, der ihre Position im Wettbewerb weiter schwächt.
Auch die politische Ebene gerät in Bewegung. Nach Informationen aus Unionskreisen soll Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn als Favorit für den Fraktionsvorsitz im Bundestag gehandelt werden. Die parteiinterne Vergabe gilt als fast abgeschlossen. Mit Spahn kehrt nicht nur ein profilierter Gesundheitspolitiker auf die Bühne zurück, sondern auch ein streitbarer Akteur, der während der Pandemie als polarisierende Figur galt und heute in einer Partei mit Führungsfrage neue Rollen zugewiesen bekommt. Für die Apothekerschaft bedeutet das möglicherweise die Rückkehr zu einer Gesundheitspolitik, die Digitalisierung und Ökonomie stärker betont als Versorgungssicherheit und Standortschutz.
Während sich Apotheken also mit rechtlichen Risiken, digitalen Bedrohungen und einem ungleichen Wettbewerb auseinandersetzen müssen, wird im Hintergrund an der politischen Neuvermessung gearbeitet. Die Gemengelage zeigt: Der Markt verändert sich, die Regeln auch – und die Apotheke vor Ort steht zwischen Plattformdruck, Fälschungsschutz und politischer Richtungsdebatte.
Kommentar:
Die Abmahnwelle gegen Apotheken, die rezeptfreie Arzneimittel über Amazon vertreiben, markiert mehr als nur ein juristisches Nachspiel eines BGH-Urteils. Sie zeigt exemplarisch, wie Plattformlogik und Arzneimittelsicherheit aufeinanderprallen – und wie wenig das bestehende Rechtssystem in der Lage scheint, diesen Konflikt proaktiv zu moderieren. Dass sich Versandapotheken durch solche Vertriebskanäle Wettbewerbsvorteile verschaffen, ist keine neue Erkenntnis. Neu ist jedoch die Entschlossenheit einzelner Marktakteure und Verbände, hier nun konsequent mit Abmahnungen vorzugehen. Das spricht für eine zunehmende Radikalisierung des Apothekenwettbewerbs.
Zugleich offenbart die Rezeptfälschungsthematik ein strukturelles Defizit: Die Digitalisierung der Rezeptwelt schreitet voran, doch die Sicherheitsarchitektur bleibt lückenhaft. Wenn Apotheker auf sich allein gestellt digitale Verifikationssysteme entwickeln müssen, weil offizielle Stellen nicht liefern, stellt sich die Frage nach staatlicher Verantwortung. Der Einsatz von Habib Chalhoub ist bemerkenswert, doch er sollte nicht der Maßstab für den Missbrauchsschutz einer ganzen Branche sein. Hier versagt die Regulierung an einer sensiblen Schnittstelle von Versorgung und Betrug.
Die Erkenntnisse der Uhlen-Apotheken-Umfrage sind ein Weckruf. Wer verstehen will, warum der Versandhandel trotz Schwächen so beliebt ist, muss zuhören – nicht nur argumentieren. Die Apotheke vor Ort verliert nicht, weil sie schlechter ist, sondern weil sie in einem System agiert, das ihren Wert nicht ausreichend sichtbar macht. Die politische Rückkehr von Jens Spahn könnte diesen Trend noch verstärken, denn seine Amtszeit war geprägt von einer marktorientierten Agenda. Wenn nun ausgerechnet er die Fraktion führen soll, die künftig auch gesundheitspolitische Weichen stellt, dann steht der Branche womöglich ein erneuter Kurswechsel bevor – diesmal nicht unter dem Deckmantel der Pandemie, sondern im Zeichen parteiinterner Machtpolitik.
Die Apotheke steht an einem Scheideweg: Sie kann sich modernisieren, profilieren und strukturieren – oder weiter marginalisieren. Doch dafür braucht sie politische Rückendeckung, klare Regeln und ein digitales Fundament, das sie nicht selbst programmieren muss.
Von Engin Günder, Fachjournalist