Knapp die Hälfte der Ärzteschaft ist weiblich – bei den Studierenden der Medizin sind es laut Statistischem Bundesamt sogar 62 Prozent. Dennoch sind nur 13 Prozent der Führungspositionen in der Medizin laut dem Deutschen Ärztinnenbund mit Frauen besetzt. Ein Blick auf das medizinische Produkt- und Dienstleistungsangebot zeigt auch, dass eine zielgruppengerechte Forschung, Lehre und Kommunikation für Patientinnen und Kundinnen häufig in der Praxis noch eine untergeordnete Rolle spielt.
Denn die medizinische Lehre widmet sich vornehmlich dem männlichen Körper. Trotz entsprechender gesetzlicher Regelungen steht das männliche Geschlecht auch bei der Gestaltung von medizinischen Studien im Vordergrund, sodass in Zulassungsstudien für Arzneimittel häufig eine unsichere Entscheidungsbasis für weibliche Patientinnen existiert. „Eine geschlechtsspezifische Datenerhebung, die sich auch in der Produktgestaltung, Dosierung, Darreichungsform von Medikamenten etc. für Frauen niederschlägt wird immer wichtiger“, erklärt Wolf, Professorin im Studienbereich Gesundheitsmanagement und stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte an der Hochschule Aalen. Auf der anderen Seite werden auch ökonomische Potenziale durch häufigere Arztbesuche, eine größere Kaufkraft (80 Prozent der Haushaltsentscheidungen treffen Frauen) und eine höhere Medikamenteneinnahme von Frauen meist noch außer Acht gelassen. Für zunehmende Diskussionen sorgen auch Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs), die den Gender Gap verstärken. Grund hierfür ist für Wolf, „dass Frauen häufig andere Symptome haben, die Datenlage aber männerbasiert sind und die Apps meist von Männern programmiert werden.“
Gleichberechtigter Ansatz: Veränderungen auf drei Ebenen
Um das Potenzial aller im Gesundheitswesen bestmöglich zu heben, bedarf es eines gleichberechtigten Ansatzes, der den sich wandelnden gesamtwirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen einspricht. Wolf schlägt dafür einen holistischen Ansatz vor, der Veränderungsimpulse und Handlungsoptionen im Gesundheitswesen für drei interdependente Ebenen (Individuum, Organisation und Gesellschaft/Politik) beinhaltet.
Wesentliche Ansatzpunkte auf der individuellen Ebene sind eine gendergerechte Kommunikation und (An)Sprache sowie Lehre und Forschung. „Frauen fühlen sich mehr angesprochen und werden stärker gedanklich einbezogen, wenn es sich in Worten wiederfindet“, berichtet Wolf. Eine angemessene bildliche Repräsentation von weiblichen Modellen und Körpern in der Medizin bietet für Wolf zudem die Chance, das (Selbst-)Verständnis zu erweitern. Wissenschaftliche Beiträge, Fallstudien und Bespiele in Lehre und Forschung sollten zudem gendergerecht gestaltet werden. Auch bei Weiterbildungen sei es wichtig, diese Thematik aufzugreifen.
Zwei zentrale Ansätze für mehr Gendergerechtigkeit sind auf der Organisationsebene zu finden. Zum einem schlägt Wolf ein verpflichtendes Gendersensitivitätstraining für alle Beteiligten vor, um der Thematik mehr Bedeutung zu verleihen und um Personen zu sensibilisieren, die bislang thematisch wenig Berührungspunkte damit hatten oder der Thematik keine Bedeutung beigemessen haben. Zum anderen bietet eine Führung in Teilzeit/Jobsharing vor allem in einem Krankenhausschichtbetrieb große Chancen, mehr Frauen für Führungspositionen zu gewinnen.
Zuletzt sollten auch die gesellschaftlich-ordnungspolitischen Rahmenbedingungen angepasst werden. Wichtige Hebel sind für Wolf hier die rechtliche Gleichstellung von Individuen sowie die Transparenz und Kontrolle von genderspezifischen Strukturen. „Zur Reduzierung der Gender Pay Gap kann es helfen, mehr Transparenz in Bewertungs-, Einstellungs-, Beförderungs- und Bezahlungsprozessen zu schaffen oder auch den Ansatz des Gender Budgeting (gendergerechter Haushaltsplan) zu verfolgen“, erläutert Wolf und fährt fort: „Der in der Corona-Krise gewährte steuerrechtliche Ausgleich für Alleinerziehende sollte keine einmalige Sonderentlastung sein, sondern allgemein angedacht werden, damit Eltern unabhängig von der Familiensituation Arbeit und Familie finanziell unter einen Hut bringen können“.
Digitalisierung als Chance für die Zukunft
Die durch die Corona-Pandemie beschleunigte Digitalisierung der Arbeit bietet für Wolf „zusätzliche Chancen für ein Umdenken zugunsten einer gleichberechtigten Teilhabe“. Digitale Besprechungen, Verwaltungsarbeiten (Befunde, Abrechnungen etc.) oder Sprechstunden ermöglichen ein Arbeiten aus dem Home Office und damit eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Voraussetzung dafür sind jedoch die Schaffung von flexiblen, bedarfsrechten Beschäftigungs- und Karrieremodellen.