Frankfurt am Main, 23.04.2019. Nach der Bundestagswahl 2017 gerieten die öffentlich-rechtlichen Sender stark in die Kritik. „Themensetzung von rechts“ kritisierten Medienkritiker*innen und Kommentator*innen über die Gewichtung in den politischen Sendungen, insbesondere im TV-Duell Merkel/Schulz. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, ging mit den Polit-Talkshows von ARD und ZDF noch härter ins Gericht. Durch ihre einseitige Fokussierung auf die Themen „Flüchtlinge“ und „Islam“ hätten die Sender dazu beigetragen, „die AfD bundestagsfähig zu machen“. Ist dieser Vorwurf berechtigt?
Fakten zur Versachlichung der Debatte
Die Medienwissenschaftler*innen Prof. Dr. Marc Liesching und Prof. Dr. Gabriele Hooffacker der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) haben für die Otto Brenner Stiftung nun erstmals eine umfassende Kategorisierung aller Erstsendeminuten der politischen Sendungen von ARD und ZDF im Monat vor der Bundestagswahl 2017 vorgenommen. Zentrale Befunde der akribischen Untersuchung: In den fünf meistgesehenen Sendungen war „Migration“ das Thema Nummer eins, über ein Fünftel der Sendezeit kreiste um diesen Sachverhalt. Beim TV-Duell Merkel/Schulz, der Sendung mit den höchsten Einschaltquoten, war das Ergebnis noch deutlicher: 34% der Sendezeit handelte vom Thema „Migration“, während „Arbeit/Familie/Soziales“, „Steuern/Finanzen“ und „Wirtschaft/Verkehr/Bau“ zusammen kaum 15 Prozent auf sich vereinigten. Über alle untersuchten Sendungen hinweg zeigt sich jedoch ein anderes Bild – hier rangiert „Migration“ mit knapp zwölf Prozent hinter „Arbeit/Familie/Soziales“ (15%) und nur knapp vor dem Thema Außenpolitik (11%).
Ergebnisse laden zur Diskussion ein
Die Untersuchung klärt über Themenschwerpunkte auf, gibt aber keine Antworten auf die Fragen nach den Folgen, sondern fordert die Leser*innen auf, eigene Schlüsse zu ziehen. Die Darstellung der detaillierten Ergebnisse erlaubt eigene Auswertungen anhand von Unterkategorien, nach Zuschauerzahlen der Sendungen oder nach Sendeformaten. So lässt sich den Daten entnehmen, dass in Polit-Talksendungen das Thema Migration – entgegen der häufig geäußerten Kritik - mit rund neun Prozent abgeschlagen auf Platz sechs rangiert, weit hinter Außenpolitik (22,35%). In den Wahlsendungen stach das Thema mit rund 21% jedoch klar heraus. Um das Bild für die Leser*innen abzurunden, haben die Autor*innen Journalisten der untersuchten Sendungen zu den Abläufen und dem journalistischen Selbstverständnis ihrer Redaktion befragt. Zusätzlich wurde eine qualitative Analyse zur Objektivität von Moderationsfragen gegenüber Politiker*innen in einigen der untersuchten Sendungen durch-geführt. „Bisher wurde in den Debatten viel mit `gefühlten´ Fakten und Häufigkeiten gearbeitet“, so Autor Marc Liesching, „wir wollten die Debatten auf ein sichereres Fundament stellen – sodass nun über die Interpretation der Zahlen und auch über methodische Fragen ihres Zustandekommens sachlich fundiert diskutiert werden kann“.
„Agenda-Setting“ und „Framing“ als Begleiter des Journalismus
Die Autoren stellen ihre Forschungsergebnisse in den Kontext der Debatten um „Agenda-Setting“ und „Framing“. Die Ausgangsthese: Eine häufige Themensetzung („Agenda-Setting“) kann die (Themen)Prioritäten der Zuschauer*innen beeinflussen. Ebenso kann die Rahmung (das „Framing“) des Themas Migration, bspw. mit dem Thema „Kriminalität“, Verknüpfungen in den Köpfen des Fernsehpublikums erzeugen und festigen. Eine mögliche Erklärung für die unzutreffende Wahrnehmung der Themenverteilung kann zudem der Hostile-Media-Effekt liefern, wonach Personen mit einer festen Position eine ausgewogene Berichterstattung als verzerrend erleben. Was folgt daraus für den politischen Journalismus? „Es geht nicht darum, ob Themen generell gesetzt und gerahmt werden“, so Jupp Legrand, Geschäftsführer der OBS, denn das sei schließlich inhärenter Bestandteil jeder journalistischen Arbeit. Diskutiert werden müsse vielmehr, „auf welche Art und Weise welches Thema wie häufig besprochen und wie gerahmt wird“, so Legrand weiter. Dafür brauche es einerseits ein Bewusstsein über diese Vorgänge und eine konsequente (Selbst)Beobachtung des Journalismus. Andererseits müsse endlich eine Debatte geführt werden „wie eine Reflexion der Folgen von Agenda-Setting und Framing als Bestandteil des Journalismus implementiert werden kann – auch das wollen wir mit unserer Studie anstoßen“, ergänzt Legrand. „Die qualitativen Befragungen haben gezeigt, dass die allgemein anerkannten journalistischen Qualitätsstandards wie Aktualität, Neutralität und Meinungsvielfalt in allen untersuchten Redaktionen eine wichtige Rolle spielen“, fasst Autorin Gabriele Hooffacker zusammen, „zudem konnten die TV-Redakteure Effekte wie den Hostile-Media-Effekt aus der Praxis bestätigen.