„Natürlich kannte ich den Begriff, aber Berührungspunkte hatte ich bis dahin damit nicht“, so Krafft. „Tatsächlich waren mein Mann und ich aber auch ein bisschen erleichtert, weil wir endlich wussten, womit wir es zu tun haben.“ Da auch die zwei Jahre jüngere Schwester Auffälligkeiten zeigte, wurde sie ebenfalls getestet – und erhielt die gleiche Diagnose.
Vom Jugendamt wurde der Familie eine sozialpädagogische Familienhilfe an die Seite gestellt, und eine Koordinatorin managt die verschiedenen Hilfen und coacht Krafft und ihren Mann im Umgang mit ihren Kindern. Denn beide brauchen feste Strukturen, auf die sie sich verlassen können. Der Sohn geht zudem ausschließlich mit einer Schulbegleitung zur Schule. „Unsere Tochter ist mittlerweile in der zweiten Klasse und kommt vergleichsweise gut klar“, erläutert Krafft. „Doch unser Großer ist extrem schnell reizüberflutet. Ein- bis fünfmal die Woche muss ich ihn vorzeitig aus der Schule abholen, weil es einfach nicht mehr geht – trotz Schulbegleitung und Ruheraum.“
Über soziale Medien vernetzte sich Krafft mit anderen Müttern von Kindern mit Förderbedarf, um Erfahrungen auszutauschen und sich Tipps zu holen. Dort stieß sie auch auf den Fernlehrgang „Fachkraft für Inklusions- und Integrationspädagogik“ der sgd. „Mir ging das nicht mehr aus dem Kopf“, erinnert sich Krafft. Da war zum einen die berufliche Situation. „Irgendwann zurück in einen Angestelltenjob mit festen Arbeitszeiten? Keine Chance. Dafür ist die Begleitung meiner Kinder im Alltag zu intensiv.“
Zum anderen wollte Krafft auch etwas für sich selbst machen. „Ich will nicht nur zu Hause sein, sondern weiterkommen“, betont die 38-Jährige. „Zu Beginn hatte ich keine Ahnung, wohin mich das Fernstudium führen wird. Aber ich habe mir gesagt, auch wenn es nur für meine eigenen Kinder ist, um mich besser auszukennen, was wir überhaupt für Ansprüche im Rahmen der Inklusion haben, hat es sich schon gelohnt.“
Inklusion von der Kita bis zur Arbeitswelt
Der Inklusionsgedanke steht dabei in einem engen Zusammenhang mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 in Kraft trat und in der das Anliegen der Integrationspädagogik beschrieben ist. „Zusammengefasst geht es darum, möglichst allen Menschen einen Zugang zu allen gesellschaftlichen Bereichen zu ermöglichen“, erläutert Christel Rittmeyer, die den sgd-Lehrgang als Fernlehrerin betreut. „Diesem Anliegen liegt ein modernes Verständnis von Behinderung zugrunde: Demnach entsteht Behinderung auch durch Ausschluss von Teilhabemöglichkeiten – was aber wiederum heißt, dass sie auch gemindert oder gemildert werden kann oder sogar gar nicht erst entstehen muss. Konkret für die Praxis heißt dies insbesondere Ressourcenorientierung, individuelle Lernangebote und Abbau von Barrieren räumlicher, sprachlicher und interaktiver Art.“
Entsprechend groß ist auch die Bandbreite an Themen, die die Teilnehmer:innen des Lehrgangs erwartet. „Inklusions- und Integrationspädagogik meint mehr als nur den schulischen Bereich. Sie beginnt in der Kita, geht über die Schule sowie außerschulische Bildungs- und Betreuungsangebote bis hin zur Arbeitswelt“, betont Rittmeyer. Sie selbst war während ihres Berufslebens viele Jahre an einer Förderschule, in der Lehrer:innenfortbildung und sowie als Konrektorin an einer Schule für Kranke mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. Zusätzlich beschäftigt sie sich seit den 1980er Jahren auch wissenschaftlich mit dem Themenbereich Integration.
Neben allgemeinem Wissen über Inklusion, zu dem auch die gesetzlichen Grundlagen zählen, eignen sich die Teilnehmer:innen während des Lehrgangs Kenntnisse zu den Inklusionsbedürfnissen unterschiedlicher Personengruppen an und lernen die verschiedenen Einsatzbereiche kennen. Denn die Inklusionsarbeit beinhaltet sehr verschiedene Formen von Förderbedarf und Konzepte für spezifische Lebenslagen, unter anderem Lernschwierigkeiten, Hochbegabung, Verhaltensstörungen, Migrations- und Fluchterfahrung, Mehrsprachigkeit, Aufwachsen in Armut und verschiedene Formen körperlicher Beeinträchtigung.
Theorie und Praxis in der Fernlehre
Trotz der Lehre aus der Distanz kommt der Praxisbezug dabei nicht zu kurz. So vermitteln zahlreiche kürzere Beispiele sowie Fallbeispiele den Studierenden, wie inklusives Arbeiten konkret gestaltet werden kann. Eine Reihe von Aufgaben zur Selbstüberprüfung und Selbsterfahrung bietet zudem einen weiteren Praxisbezug.
„Der Kurs gibt einen Überblick über die aus meiner Sicht wesentlichen Felder, in denen Pädagog:innen inklusiv arbeiten können“, so Rittmeyer. „Der Schwerpunkt liegt jedoch auf den Arbeitsbereichen Krippe, Kita und Schule.“ Gerade dort herrscht leider ein hoher Personalmangel, wie auch Sabrina Krafft erleben musste. „Bis mein Sohn eine Schulbegleitung bekommen hat, war er schon im zweiten Halbjahr der zweiten Klasse“, erinnert sie sich.
„Der Kurs gibt einen Überblick über die wesentlichen Felder, in denen Pädagog:innen inklusiv arbeiten können.“
Christel Rittmeyer, Fernlehrerin bei der sgd
Entsprechend gut sind wiederum die Aussichten für Absolvent:innen. Rittmeyer plädiert jedoch dafür, den Blick zu weiten. „Ich halte es für einen Fehler, Inklusion nur auf den Bildungsbereich zu beschränken“, so die Expertin. „Die Thematik muss breiter gesehen werden. Inklusion soll die Teilhabe in den verschiedensten Bereichen ermöglichen und dort Unterstützung leisten. Dafür bedarf es zum Beispiel auch Assistenzkräfte, etwa in der persönlichen oder der Arbeitsassistenz.“
Dass die Kursinhalte so breit gefächert sind, hat auch Kraffts Blick noch einmal verändert. „Es ist wirklich spannend zu erfahren, wie unterschiedlich die Bedürfnisse sind, aber wie ähnlich auch vieles ist“, so die Fernstudierende. „Was so faszinierend ist: Alle Kinder, ob mit oder ohne Behinderung, profitieren von Inklusion. Und die Lehrer:innen im Endeffekt auch.“
Krafft befindet sich noch mitten im Studium und bemerkt schon nach der ersten Hälfte positive Auswirkungen in ihrem Alltag. „Das neue Wissen hilft mir, die Ansprüche meiner Kinder besser und selbstbewusster einzufordern“, freut sie sich. „Ich kann schließlich mit fundiertem Wissen belegen, dass wir das Recht auf bestimmte Dinge haben – das ist etwas anderes als Hörensagen oder eine schnelle Internetrecherche.“
Auf steinigem Weg zur Herzensangelegenheit
Doch Krafft möchte auch aus einem anderen Grund das Fernstudium nicht mehr missen: „Ich habe gemerkt, dass mein Herz für Inklusion brennt – das ist einfach mein Thema.“ Darum spielt sie bereits jetzt mit dem Gedanken, sich als Beraterin für Inklusion und Autismus selbstständig zu machen. Sie hat nach dem Abschluss schließlich nicht nur das nötige Fachwissen, sondern kennt die Bedürfnisse und Nöte von Eltern autistischer Kinder aus eigener Erfahrung. „Das spielt eine wichtige Rolle. Ich kann den Eltern zeigen, dass ich es auch geschafft habe – wenn man selbst lebt, wovon man spricht, macht es einfach einen ganz anderen Eindruck, und man erreicht die Eltern auf einer ganz anderen Ebene.“
In ihrem neuen Wunschjob könnte sie eine Stütze für Eltern sein und ihnen als Begleiterin zur Seite stehen. Doch Krafft möchte noch weitergehen und als Coach Institutionen, Schulen und Kindergärten an die Hand nehmen und sie auf dem Weg begleiten, Inklusion noch mehr zu leben. „Arbeiten fühlt sich dann ganz anders an, wenn man sein Thema gefunden hat. Das ist einfach schön.“
Möchten auch Sie sich für mehr Inklusion engagieren? Wir beraten Sie gerne! Melden Sie sich bei unserem Studierendenservice unter 06151 38426 und fragen Sie auch nach einer Förderung mit Bildungsgutscheinen!