Vor zwei Jahren hat die VDI-Fachgesellschaft Fahrzeug-und Verkehrstechnik (VDI-FVT) mit der Berliner Erklärung dargelegt, welche Herausforderungen die Fahrzeugtechnik bei dieser Aufgabe bewältigen muss - besonders vor dem Hintergrund das Gewicht und den CO2-Ausstoß der Fahrzeuge weiter zu reduzieren. Bei dem Pressegespräch anlässlich der 9. VDI-Tagung "Fahrzeugsicherheit" am 20. November 2013 diskutierten Thomas Herpich von TRW Automotive, Klaus Kompaß von BMW sowie Volker Schindler von der Universität Berlin und Rodolfo Schöneburg von Daimler die neuesten Entwicklungen der Branche.
VDI-FVT Vorsitzender Prof. Rodolfo Schöneburg stellte die Schwerpunkte für die künftigen Entwicklungen heraus: Moderne Fahrerassistenzsysteme tragen zur Unfallvermeidung bei und auch die Vorunfallphase ließe sich nutzen, um die Unfallfolgen zu mindern. "Der beste Unfall ist der, der gar nicht passiert", ergänzte Kompaß. Dabei wies er auf ein weiteres Potenzial hin, um Unfallfolgen zu mindern: die Verbesserung der Rettungsmaßnahmen durch einen automatisierten, intelligenten Notruf im Fahrzeug. "Die Verkürzung der sogenannten Golden Hour nach einem Unfall birgt hohes Potenzial für die Rettung vieler Menschenleben.", so Kompaß. Der voraussichtlich bis spätestens 2016 verbindliche "E-Call" für neue Fahrzeuge in der EU könnte 2.500 Unfalltote jährlich verhindern. Ein aufwändigeres System mit Back-end, wie es Hersteller wie BMW bereits verwenden, könnte sogar 4.000 Menschenleben jährlich retten - mehr als 10 Prozent der Opfer nach heutigem Stand.
Laut Schöneburg sei ein weiterer Schwerpunkt der Schutz der bisher ungeschützten Verkehrsteilnehmer: Fußgänger und Radfahrer. Gerade bei dieser Personengruppe können Assistenzsysteme bis zu 60 Prozent der Todesfälle verhindern. Sie weisen den Fahrer auf die anderen Verkehrsteilnehmer hin und unterstützen beziehungsweise automatisieren die Reaktion. Weitere passive Schutzmaßnahmen wie Fußgänger-Airbags könnten immerhin noch weitere 15 Prozent der Getöteten vermeiden.
Die Sicherheit der Elektro- und Hybridfahrzeugen, deren Hochvolttechnik beherrschbar ist, aber noch ungewohnte Gefahrenpotenziale, besonders beim Crash und in der Nachunfallphase birgt, ist aus der Sicht von Schöneburg ein weiterer Schwerpunkt. In einem Positionspapier zu "Elektromobilität und Sicherheit" stößt der VDI-FVT eine Diskussion für höhere Sicherheitsanforderungen für Leichtfahrzeuge mit Elektroantrieb an. Bisher müssen Leichtfahrzeuge keine dem klassischen Pkw vergleichbaren Sicherheitsanforderungen erfüllen. Da sie aber kleinere Batterien als schwere Pkw benötigen, könnten sie ein gewisses Marktpotenzial für die Ausbreitung der Elektromobilität entwickeln.
Die Fahrsicherheitsexperten wünschen sich eine international einheitliche Erfassung von Unfalldaten bei ausführlichen Unfallanalysen. Denn Europa legt großen Wert auf die Verringerung seiner Unfallopfer. Im weltweiten Vergleich liegt Europa mit rund 31.000 Unfallopfern gegenüber weltweit 1,3 Millionen Verkehrsopfern bezüglich der Motorisierungsdichte weit unter dem Durchschnitt. Wenn die Unfallforschung belegen kann, dass künftig Assistenzsysteme die Opferzahlen mindern können, muss sie eine neue Herausforderung meistern: Wie lässt sich die Wirksamkeit von Systemen, die Unfälle verhindern beweisen? In diesem Fall hat es die passive Sicherheit, die sich erst beim Unfall zeigt, leichter ihren Nutzen statistisch zu belegen. Sie wird noch lange die absolute Grundlage der Fahrzeugsicherheit bleiben - darin waren sich alle Experten einig.
"Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Zielsetzungen der Zukunft nicht nur an den Zahlen der Getöteten, sondern auch an der Zahl der Verletzten, und an der Schwere der Verletzungen orientieren muss", erinnerte Herpich. Hier eröffnet sich ein weiteres Feld für Fahrzeugingenieure, die den Insassenschutz der Fahrzeuge weiter optimieren möchten. Um der Utopie "Null Verkehrsopfer", die als Vision von der EU vorgegeben wurde, möglichst nahe zu kommen, brauchen Ingenieure allerdings auch Unterstützung von außen. "Keines dieser Aktionsfelder kann alleine die Automobilindustrie mit Erfolg bearbeiten", so Schindler, der die Berliner Erklärung mit verfasste. "Es sind stets ein gesellschaftlicher Konsens und verlässliche Rahmenbedingungen erforderlich."